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Max Beckmann: Blickwechsel – Wortwechsel, Teil 6

Um der Verbreitung des Corona-Virus entgegenzuwirken, musste die Hamburger Kunsthalle auch im Januar 2021 geschlossen bleiben. In der Veranstaltungsreihe „Blickwechsel“ hätten Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachbereichen ihren Arbeitsplatz temporär in die Ausstellung „Max Beckmann. weiblich-männlich“ verlegen sollen. Aus diesem „Blickwechsel“ sind mit der Schließung des Museums nun schriftlich geführte „Wortwechsel“ geworden. Im sechsten Teil korrespondiert Inga Dreesen, Kunsthistorikerin und Kunstvermittlerin, mit Ann-Kathrin Hubrich (wissenschaftliche Mitarbeiterin) über Beckmanns rätselhafte Zeichnung „Mirror (Champagne Fantasy)“ aus dem Jahr 1945. 

AH: Liebe Inga, ich habe dich gebeten, ein Werk aus der Ausstellung „Max Beckmann. weiblich-männlich“ auszuwählen, und du hast dich rasch für die Tuschzeichnung „Mirror (Champagne Fantasy)“ von 1945 entschieden. Was interessiert dich daran besonders? 

ID: Das Blatt „Mirror (Champagne Fantasy)“ zog meine Aufmerksamkeit sofort auf sich, als ich es zum ersten Mal sah. Dieser Kreis im Vordergrund, die sich tummelnden Körperfragmente, im Zentrum die runde Brust, dahinter das überschäumende Champagnerglas, dem wilde Formen entsteigen. Und ganz unten am Bildrand die Hand, die einerseits all das zu halten scheint, andererseits jedoch merkwürdig fehl am Platz wirkt. Diese Rätselhaftigkeit ist großartig, weil ich ganz genau hinsehen muss, um einzelne Details zu entschlüsseln. 

Karin Schick, die Kuratorin der Ausstellung, vermutet, dass der Titel der Tuschezeichnung nicht von Beckmann selbst stammt, und vertritt die These, dass die runde Form eher eine Lupe als einen Spiegel darstellt. Dazu passt auch die Hand, die den Griff des Vergrößerungsglases hält. Damit entstehen spannende neue Fragen: Nehmen wir als Betrachter*innen womöglich den Blick des Künstlers hinein in die Champagner-Fantasie ein? Können wir wie durch ein Brennglas sehen, dass sich hier alles vermischt, brodelt und schäumt?

AH: Durch die Lupe im Bild vergrößert, entpuppt sich der Inhalt der Champagnerflöte als eine Melange aus männlich und weiblich konnotierten sowie vormenschlich anmutenden Körperfragmenten. Was erzählt uns das Werk über die Geschlechtervorstellung Max Beckmanns? 

ID: Das ist eine aufregende Frage angesichts der vielen Beobachtungen, die bereits zu Beckmanns Vorstellungen der Geschlechter gemacht wurden. Beckmann ist wohl eher ein Macho gewesen, der als Künstler mit seinen weiblichen Partnerinnen eine kreativitätssteigernde Symbiose eingehen wollte. Wichtiger noch als die persönliche Haltung des Malers erscheinen mir die Fragen, wo die Kunst gesellschaftliche Themen behandelt, Debatten der Zeit aufgreift oder auch Verknüpfungen zu unserer Gegenwart ermöglicht. 

Die Melange in der Champagnerflöte könnte einerseits auf die Geschlechtervorstellungen der Zeit anspielen – in der aktuellen Ausstellung hängt die Zeichnung in dem Saal „Im Ursprung“. Hier geht es um soziologische, philosophische und naturwissenschaftliche Ansätze des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die Beckmann prägten. Entwickelt wurden verschiedene Ideen, woher die Menschen mit ihren Geschlechtern und Identitäten kommen, und ob es zum Beispiel einen Urmenschen gegeben haben könnte, der alle Geschlechter in sich vereinte.

Vielleicht zeigt uns das Bild auch, dass so vieles aus den Fugen geraten ist. Immerhin entstand die Zeichnung im Jahr 1945 – zwei Weltkriege hatten alle gesellschaftlichen Vorstellungen erschüttert, die Rollen von Mann und Frau stark verändert, Leid und Lust in neue Extreme geführt. In Beckmanns Gemälde „Selbstbildnis mit Sektglas“, das 1919 entstand und im Städel Museum hängt, scheinen die Kneipenatmosphäre und das Delirium des Alkohols den Schrecken des Ersten Weltkriegs kurzfristig und nicht ganz überzeugend zu betäuben. Greift Beckmann diese Gefühlslage in der Tuschzeichnung von 1945 wieder auf? 

Auch ließe sich darüber nachdenken, welche geschlechtlichen Identitäten im 20. Jahrhundert Thema waren: Zwischen den Weltkriegen gehörten auch Menschen zum Bild der Großstädte, die wir heute als „queer“ bezeichnen würden, beispielsweise Transvestiten, Schwule, Lesben oder Bisexuelle. Beckmanns „Champagne Fantasy“ lässt sich mit diesem Gedanken verknüpfen: Die Körperteile sind nicht unbedingt einem der beiden dichotom konstruierten Geschlechter Mann und Frau zuzuordnen – grinsende Münder, greifende Hände, schwangere Bäuche und phallische Formen wirbeln umher und gehen Verbindungen ein. Und wenn wir ganz genau hinschauen, sprudelt im Hintergrund keine vollständig abstrakte Champagnerwolke aus dem Glas, sondern es lassen sich in zarten Linien auch die Umrisse eines Chamäleons erkennen – ist also alles wandelbar? 

AH: Passend zu dieser Beobachtung eine letzte Frage: Welchen Beitrag kann Max Beckmanns Kunst im Hinblick auf aktuelle Diskurse der Gender Studies leisten? 

ID:  Die Idee, dass wir die ausgewählte Zeichnung einer „queeren Relektüre“ unterziehen können, ist stark mit dem aktuellen Diskurs um die Gender Studies und Queer Theory verbunden. Es lohnt sich, diese Ansätze, die hauptsächlich aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen, in kunsthistorische Betrachtungen einzubeziehen. In jeder Epoche, und ich möchte behaupten anhand eines jeden Bildes vom Menschen lässt sich darüber nachdenken, wie Identitäten, Strukturen und Rollenbilder gezeigt, hinterfragt oder auch aufgebrochen werden. Gehen wir davon aus, dass es nicht nur ein anatomisches Geschlecht gibt, sondern auch eine kulturell-geschlechtliche Identität – also das, was als „Gender“ bezeichnet wird –, können wir reflektiert darüber sprechen, wie Männer, Frauen oder auch andere, diverse Menschen in Kunstwerken dargestellt werden. Das gilt auch für die Werke Max Beckmanns, wie die Ausstellung in der Kunsthalle ganz wunderbar zeigt.
 

Inga Dreesen studierte Kunstgeschichte und Kulturanthropologie an der Universität Hamburg und am University College London. Seit 2014 ist sie Mitarbeiterin in Ausstellungs- und Forschungsprojekten der Hamburger Kunsthalle, zudem ist sie als freiberufliche Kunstvermittlerin sowie Autorin tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf Kunstwerken der Klassischen Moderne und Moderne, die sie aus der Perspektive der Gender Studies und Queer Theory untersucht. 

  

Hier geht es zum ersten Teil der Reihe "Wortwechsel".

Hier geht es zum zweiten Teil der Reihe "Wortwechsel".

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Max Beckmann, „Mirror (Champagne Fantasy)“, 1945, Caroline und Stephen Adler Foto: privat, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020