Pieter de Hooch (1629–um 1679), Der Liebesbote, um 1670, Öl auf Leinwand, auf Holz aufgezogen, 57 × 53 cm, © Hamburger Kunsthalle / bpk, Foto: Elke Walford
Lars Eidinger, Ohne Titel, Paris 2018, C-Print Bildnachweis: ©  Lars Eidinger
Stefan Marx, I’ll be your mirror, 2021, Monopigmentierte Acrylfarbe auf Leinwand, 120 × 90 cm © Stefan Marx / Foto: Christoph Irrgang
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Moment mal!

Warum die Alltagsszenen der niederländischen Meister des 17. Jahrhunderts bis heute faszinieren, zeigt die Ausstellung Klasse Gesellschaft
Mit zeitgenössischen Interventionen von Lars Eidinger und Stefan Marx

Was verbindet die Gesellschaft von heute mit derjenigen des sogenannten »Goldenen Zeitalters« der Niederlande? Lassen sich Vergleiche ziehen? Oder sind die Szenen, die vermeintlich den Alltag der Menschen des 17. Jahrhunderts widerspiegeln, durchweg bloß inszenierte und moralisierende Sittenbilder ihrer Zeit? Die Ausstellung Klasse Gesellschaft. Alltag im Blick niederländischer Meister versammelt nun, ausgehend vom Bestand der Hamburger Kunsthalle, rund 180 herausragende Werke aus bedeutenden nationalen und internationalen Museen, darunter allein zwanzig hochkarätige Bilder von Pieter de Hooch. Dabei treffen die altmeisterlichen Gemälde auf zeitgenössische Fotografien und Videoarbeiten von Lars Eidinger und typographische Bilder von Stefan Marx. So entstehen plötzlich nicht nur ungeahnte und verblüffende Parallelen, sondern man realisiert zugleich die ungebrochene Aktualität der Alten Meister.

Globalisierung in der Frühen Neuzeit
Die nördlichen Provinzen der Niederlande entwickelten sich seit dem 16. Jahrhundert – nicht zuletzt durch die Gründung der Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC) 1602 und der Niederländischen Westindischen Kompanie (WIC) 1621 – zum bedeutendsten Handels- und Finanzzentrum Europas und lösten Venedig als internationalen Handelsplatz ab. Diese Position wurde nach dem 80 Jahre andauernden Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien noch gestärkt, aus dem die Niederlande schließlich als führende Weltmacht hervorgingen. Im europäischen Mächtesystem kam es in der Folge zu einschneidenden Verschiebungen, die in den Niederlanden das sogenannte »Goldene Zeitalter« einläuteten und auch in der Malerei des 17. Jahrhunderts ihren Niederschlag fanden.

Von der Stände- zur Klassengesellschaft
Der Wandel vollzog sich jedoch nicht nur in Wirtschaft und Kunst, sondern betraf vor allem auch die Gesellschaft. Die Bevölkerung wuchs kontinuierlich an, was unter anderem auf die Einwanderung von Protestanten aus den Südlichen Niederlanden als Folge des Unabhängigkeitskrieges zurückzuführen ist. Durch den wirtschaftlichen Erfolg des Landes bildete sich innerhalb kurzer Zeit in den Städten eine Schicht von vermögenden Kaufmannsfamilien und Privatleuten, die sich einen aufwendigen Lebensstil leisten konnte. Die wohlhabenden Bürger kauften nicht nur Häuser in vornehmen Gegenden, die sie mit Kunstwerken, Porzellan und teurem Mobiliar sowie Tapisserien schmückten. Sie kleideten sich in edle Stoffe, besaßen Statussymbole und stellten ihren Wohlstand und ihren gesellschaftlichen Rang offen zur Schau. So galt die Kalesche, eine Kutsche mit zusammenklappbarem Verdeck, als das prestigeträchtigste Statussymbol, sie war gleichsam der »Mercedes des 17. Jahrhunderts«.

»Drinnen« und »Draußen«
Der Familie beziehungsweise dem Familienleben und seiner Inszenierung kam dabei eine wachsende Bedeutung zu. Einschlägige Publikationen beschreiben beispielhaft den Alltag der bürgerlichen Familie im 17. Jahrhundert sowie die Rolle der Frau als zuallererst tugendhafte Hausfrau, die in ihren Aufgaben teilweise von einer Magd unterstützt wurde. Elegante atmosphärische Interieurszenen von Johannes Vermeer, Pieter de Hooch oder Gerard ter Borch waren bei Sammlern besonders beliebt und ab 1658 stark nachgefragt, auch wenn die detailreich dargestellten Innenräume in erster Linie repräsentativen Zwecken dienten, als Empfangs- oder Gesellschaftsräume genutzt wurden und nicht nach unserem heutigen Verständnis »privat« waren. Doch obwohl die Entwicklung der Gesellschaft in den Niederlanden mit der höchsten Urbanisierung Westeuropas, der geringsten Anzahl an Analphabeten und einem gut ausgebauten sozialen Netz als vorbildlich galt und die wirtschaftliche Modernisierung Handel, Landwirtschaft und Gewerbe gleichermaßen erfasst hatte, lebte ein Teil der Menschen aufgrund von Erwerbslosigkeit in Armut und zog als Bettler umher – und auch dies fand Eingang in die Bildwelt.

geselschap, boordeltje, boerenkermis
Erst seit dem 18. Jahrhundert werden Szenen aus dem alltäglichen Leben der Menschen mit dem Begriff »Genremalerei« umschrieben. Noch ein Jahrhundert zuvor gab es für diese Darstellungen keine übergeordnete Bezeichnung. Die Bilder wurden in den Niederlanden vielmehr nach ihrem Thema benannt, also beispielsweise geselschap für fröhliche Gesellschaften, boertjes für Bilder mit Bauern, cortegarde und boordeltje für Szenen in der Wachstube und im Bordell, boerenkirmis für die Bauernkirmes oder einfach nur min met een kintje für eine Amme mit Kleinkind. Dies verdeutlicht die ganze Bandbreite und Vielfalt der Themen: Das familiäre, friedlich-häusliche Idyll des vornehmen Bürgertums ist ebenso vertreten wie singende und tanzende Bauern, Menschen bei ihrer Arbeit oder Schilderungen des lasterhaften, maßlosen Verhaltens der vermeintlich einfältigen Landleute, die als Sinnbilder des schlechten Betragens rauchen, zechen und Ausschweifungen jeglicher Art frönen. Das sogenannte Bauerngenre von Adriaen Brouwer, David Teniers d. J. oder Adriaen van Ostade karikiert den oftmals anstößigen, den »niederen« Trieben folgenden Lebenswandel der »Bauerntölpel«. Die Motive schildern und entlarven in übersteigerter und ironisierender Form das angebliche Fehlverhalten der dargestellten Figuren.

Kunstmarkt und Kunstgeschmack
Die Genrebilder wurden für einen Kunstmarkt geschaffen, der durch die andauernde wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit in den Niederlanden entstanden war, in deren Folge sich die Bürger erstmals Ölgemälde leisten konnten. Die Motivwahl richtete sich nach dem Geschmack und der Nachfrage der bürgerlichen Käuferschicht. Und so begann ein Umdenken bei den Künstlern, die sich neu orientierten und ihre Bilder erstmals für einen anonymen Markt malten, ohne vorab ihre Käufer und deren Wünsche zu kennen. Als Fachmaler spezialisierten sie sich zunehmend auf eine Gattung und beschäftigten sich in der Folge ausschließlich damit. Die Käufer wiederum bevorzugten vor allem Themen, die sie verstehen konnten und die bezahlbar waren. Dabei nahmen Historienbilder und mythologische Szenen eine zunehmend untergeordnete Rolle ein. Die niederländischen Bürger präferierten offensichtlich Stillleben, Landschaften und Genrebilder. Zeitgenössische Inventare belegen, dass sich Genredarstellungen Ende des 17. Jahrhunderts bei Sammlern der größten Beliebtheit erfreuten. So nahm ihr Anteil in den Sammlungen vermögender Bürger stetig zu. Die starke Nachfrage ließ dabei auch die Preise auf dem Kunstmarkt rapide steigen.

Momentaufnahme oder Inszenierung?
Sicherlich sind die Darstellungen nicht als sozialkritisch im heutigen Verständnis zu bewerten. Doch ist ebenso ihre Festlegung auf bloße »Sittengemälde« mit ausschließlich moralisierendem und didaktischem Inhalt überholt. Denn natürlich muss man sich fragen, welchen Anreiz die wohlhabenden Bürger hatten, ihre Häuser mit Bildern von feiernden, betrunkenen und gar urinierenden Menschen zu schmücken. Ausschließlich zur eigenen Belustigung? Als mahnende Erinnerung an ein untadeliges Benehmen? Damit einher geht die Frage, ob die Genrebilder, die die bürgerlichen Auftraggeber und Käufer wegen ihrer vordergründig so realitätsnah wirkenden Darstellungsweise schätzten, tatsächlich auf Alltagsbeobachtungen beruhten, also nae t’leven (»nach dem Leben«) entstanden sind, ob sie ungezwungene Momentaufnahmen oder aber künstlerische Inszenierungen zeigen. Pieter de Hooch etwa malte seine Bilder nicht streng nach der Wirklichkeit, sondern kombinierte verschiedene Versatzstücke und Verhaltensweisen der Figuren, die er tatsächlich so in Bürgerhäusern vorgefunden hatte, mit seiner eigenen Imagination und schuf auf diese Weise seine eigene, unverwechselbare Bildsprache. Dies ist kein Widerspruch, denn die scheinbar in einem intimen Moment abgebildeten Gestalten sind keine realen Personen, sondern stehen für austauschbare, anonymisierte Figuren in ihren sozialen Rollen.

Spots auf die Gesellschaft
Die Fotografien von Lars Eidinger sind auf den ersten Blick ebenfalls Momentaufnahmen und beruhen auf Alltagsbeobachtungen. Sie sind nahezu auf der ganzen Welt entstanden und zeigen Menschen in unterschiedlichen Situationen. Es sind oftmals Widersprüchlichkeiten, mit denen uns die dargestellten Szenen konfrontieren. Diese Konfrontation erfolgt ohne Anklage oder Bewertung, doch öffnet sie die Sinne und den Blick und veranlasst uns zum genauen Hinschauen. Die Bilder offenbaren die stetige Suche und Rastlosigkeit des Menschen und vermitteln ein Gefühl der Einsamkeit und des Verlorenseins, vielleicht auch der Überforderung in einer sich immer schneller verändernden Welt. »Wie das Motiv allerdings kommentiert wird, was es an Gedanken und Gefühlen beim Gegenüber hervorruft, ist individuell und sagt mehr über den Betrachter aus als über die Fotografie an sich«, sagt Eidinger. 

Bilder zum Sprechen bringen
So wie sich die sogenannten Feinmaler um Johannes Vermeer oder Pieter de Hooch durch ihre genaue Darstellung der Details in den Interieurs oder bei der Ausstattung ihrer Figuren auszeichneten, so präzise und aufmerksam beobachtet Lars Eidinger. Er hält Einzelheiten fest, deren mögliche tiefere Bedeutung man oftmals erst auf den zweiten Blick erkennt und die ebenso vergnüglich sind wie nachdenklich stimmen. Immer sind es Motive und Situationen, denen er zufällig begegnet, nach denen er nicht sucht. Und wie bei den Alten Meistern spiegeln seine Fotografien gleichzeitig die Dynamik des Lebens und die Vergänglichkeit des Moments wider. Das Stichwort Einsamkeit ist ein verbindendes Element. In sich gekehrt und für sich agierend wirken die Figuren in den Darstellungen von Vermeer oder de Hooch, selbst wenn sie in Gemeinschaft sind. Dahinter stehen die großen Themen einer Gesellschaft im Umbruch: die wachsenden Spannungen zwischen Arm und Reich, Stadt und Land – aber auch die Frage der Kommunikation damals wie und heute. Besonders Letzteres unterstreichen auch die Arbeiten des zweiten zeitgenössischen Künstlers in der Ausstellung: Stefan Marx arbeitet mit Schriftbildern, die in besonderer Typographie als Gemälde realisiert werden. Die poetischen, humorvollen, aber auch kritischen Aussprüche, Zitate oder Epigramme erschließen neue Perspektiven in der Auseinandersetzung mit den niederländischen Genreszenen und bringen die Kunst der Alten Meister gleichsam zum Sprechen.

Sandra Pisot

SANDRA PISOT leitet die Sammlung Alte Meister an der Hamburger Kunsthalle und ist Kuratorin der Ausstellung.