Sara Cwynar (*1985) Videostill aus Glass Life, 2021 6-Kanal-Video (2K) mit Ton,  19:02 Min. / Maße variabel, Courtesy the artist, The Approach, London and Foxy Production, New York © Sara Cwynar
Viktoria Binschtok (*1972) Lines & Clouds, 2020 Digital C-prints 117 x 69 cm / 117 x 130 cm © Viktoria Binschtok, Courtesy: Klemm‘s Berlin
Frida Orupabo (*1986) Rainy Days, 2021,  Digital C-Print, 95 × 135 cm,  © Frida Orupabo, Courtesy Galerie Nordenhake Berlin / Stockholm / Mexico Foto: Susann Jamtøy
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Grenzenlos

Elegant gleitet ein digitaler Avatar im blauen Badeanzug und mit Badekappe durch die virtuellen Bilderfluten der Installation Glass Life. Lebensmittel und Katastrophenbilder, Instagram-Models Kunstwerke, Cartoonfiguren, Emojis und Selbstporträts fließen in der Video-Collage von Sara Cwynar an uns vorbei. Die Schwimmerin wird zum Sinnbild unseres subjektiven Erlebens im digitalen Raum, das vor allem vom Gefühl einer visuellen und akustischen Reizüberflutung geprägt ist. Mit Screenshots, Fotos und Texten aus ihrem eigenen Archiv hinterfragt die amerikanische Künstlerin aus feministischer Perspektive nicht nur unsere Konsumkultur und deren Machtstrukturen sondern zugleich auch den Versuch, angesichts endloser Bilddaten und Eingaben das eigene Selbst zu definieren. Cwynars dynamische Konfiguration von Bildern und Videos ist Teil der Ausstellung Give and Take. Bilder über Bilder, die anlässlich der 8. Phototriennale in der Hamburger Kunsthalle stattfindet. Unter dem Motto Currency lädt das Festival unter der Leitung eines internationalen Kurator*innenteams in Zusammenarbeit mit allen großen Hamburger Museen, Ausstellungshäusern, kulturellen Institutionen und Galerien zum Nachdenken über die Macht der Bilder ein.

Das Bild als Währung
Die letzten 30 Jahre haben mehr Bilder hervorgebracht als die gesamte Geschichte der Menschheit zuvor. Fotos zirkulieren und migrieren über geografische, kulturelle und soziale Grenzen hinweg. Der globale Bild-Transfer ist nicht zu stoppen, und die Dominanz des Bildes bei der Meinungsbildung wird immer deutlicher. Die Vorstellung von »Währung« (Currency), die auch Austausch, Verbreitung und Veränderung einbezieht, kann daher als Leitmotiv für die Triennale betrachtet werden. In den verschiedenen Ausstellungen wird damit nicht nur die Politik der Fotografie und ihr zeitgenössischer Gebrauch dargestellt, sondern der Versuch unternommen, die Kontinuität des Bildes als mächtige Währung der menschlichen Interaktion verständlich und vor allem lesbar zu machen. 

Give and Take. Bilder über Bilder
Wie bei den vorherigen Phototriennalen ist die Hamburger Kunsthalle auch in diesem Jahr mit einer umfangreichen Ausstellung am Festival beteiligt. Give and Take (»Geben und Nehmen«) beschreibt Prozesse des Austauschs und der Aneignung von Bildmaterial in der zeitgenössischen Fotografie. Die Kontexte, in denen ein und dieselbe Fotografie heute erscheint, haben sich potenziert – und damit auch deren Wirkung. Die Bedeutung von Bildern – auch des eigenen – lässt sich kaum noch kontrollieren. In diesem Spannungsfeld eignen sich Künstler*innen Bilder an, um die Mechanismen der Produktion von Realitäten und Identitäten zu erforschen und offenzulegen. Mit fotografischen, filmischen und installativen Arbeiten, die sich aus historischen Filmaufnahmen, Museumssammlungen, klassischen Printmedien, sozialen Netzwerken oder Bildersuchmaschinen speisen, reagieren sie auf Bilder, die aus einer anderen Zeit stammen oder für einen anderen Zweck entwickelt wurden, und holen sie in ihre Gegenwart. Dabei geht es um Fragen von Aneignung und Neuschöpfung, von Kanon und Prozess, Austausch und Ausschluss, Zirkulation und Verweigerung von Bildern. Wie die Schlagworte einer Bildersammlung werden diese Themen in der Ausstellung als »Ordner« bezeichnet, deren Inhalte – wie bei jedem Archiv – auch mehrfachen Deutungen und Umdeutungen unterliegen können.

Archiv & Algorithmus
Am Beispiel der legendären Picture Collection der New York Public Library, seinerzeit das weltweit größte analoge Bildarchiv, das nicht nur Künstler*innen wie Andy Warhol, sondern auch Presse- und Werbeagenturen als Inspirationsquelle diente, untersucht die amerikanische Künstlerin Taryn Simon in ihren Fotocollagen unter dem Titel The Picture Collection die Strukturen und Hierarchien von Katalogisierung und deren Einflussnahme auf die Gesellschaft, lange vor der Erfindung des Internets. Viktoria Binschtok interessiert sich dagegen für die digitalen Bildprozesse. Sie nutzt aufgefundene digitale Daten oder speist eigene Bilder mithilfe von Algorithmen in das virtuelle Netz ein, um sie dann wiederum mit selbst geschaffenen analogen Fotografien zu kombinieren. Sebastian Riemer reflektiert in seinen Arbeiten die Wirkung und Intention von Bildpräsentationen, indem er zum Beispiel gerahmte Kleinbild-Dias von bekannten Kunstwerken als großformatige Fotos reproduziert. Dabei geht es auch darum, dass sich der Bildkanon im Zuge der Digitalisierung von Kunstwerken gewandelt hat, ehemalige Ikonen wurden durch neuere abgelöst und verschwanden aus dem Umlauf.

Erinnern & Zerstören 
Dem Thema der Zerstörung gehen die Künstler Walid Raad und Volker Renner auf sehr unterschiedliche Weise nach: Walid Raads Videoarbeit Solidere von 2019 zeigt den Abriss Hunderter von Gebäuden in der Innenstadt Beiruts, die Mitte der 1990er-Jahre für eine neue Baupolitik weichen mussten. Dokumentarische Filmaufnahmen, die ehemalige Bewohner*innen des Viertels von der Implosion gemacht haben – so die Erzählung des Künstlers –, werden zu einem scheinbar unendlichen Panorama der Zerstörung zusammengesetzt. Mit Blick auf die Explosion im Hafen Beiruts im Herbst 2020 geraten dieselben Aufnahmen jedoch zu Bildern einer grausamen Verwüstung und zugleich zu Dokumenten staatlicher Misswirtschaft und Korruption. Der Sturm auf das US-Kapitol im Januar 2021 als Akt mutwilliger Zerstörungswut wurde dagegen durch die Selfies des wütenden Mobs direkt über soziale Medien wie Instagram und Twitter verbreitet. Doch die Angreifer auf die Demokratie wurden durch ihre eigenen Fotos selbst zu Gejagten. Auf der Website Faces of the Riot konnten anhand von privaten Aufnahmen, die während des Angriffs entstanden und auf der Social-Media-Plattform parler hochgeladen wurden, 6.000 Verdächtigte zu Fahndungszwecken identifiziert werden. Indem Volker Renner daraus gerade die unscharfen, pixeligen Gesichter zur Schau stellt, verdichtet und vereinheitlicht er sie zu einem Bild des Schreckens und der Auslöschung.

Wahrnehmung & Identität 
Wem gehört ein Foto? Den Abgebildeten, den Fotograf*innen oder einem Archiv? Wie gehen wir mit Bildern der Geschichte um, und welche Rolle spielt das Foto als Reproduktion von Wirklichkeit? Thomas Ruff, der in seinem Werk seit vielen Jahren mit Bildern arbeitet, die schon existieren oder in anderen Kontexten publiziert wurden, hat in seiner Serie press++ (seit 2015) die Vorder- und Rückseiten aus vorwiegend amerikanischen Zeitungs- und Magazinfotos kombiniert. Abbild, Kommentare und Gebrauchsspuren verschmelzen zu einem einzigen Bild. Abgezogen im großen Format, wird dadurch nicht nur der Informationswert der (Presse-)Fotografie, ihre Sichtbarkeit und ihre Funktion im Alltag hinterfragt, sondern generell die Frage nach der Bilderzeugung und der Wahrnehmung von Bildern in der heutigen Welt reflektiert. Die norwegisch-nigerianische Künstlerin Frida Orupabo sammelt seit 2013 archivarisch und medial verbreitetes Bildmaterial, darunter Aufnahmen kolonialer Gewalt, und wirft einen Blick vor allem auf stereotype Darstellungsweisen Schwarzer Frauenkörper. Ihre collageartigen Werke entwickeln sich ausgehend von ihrem Instagram-Account @nemiepeba, den sie als Archiv ihrer Texte, Bilder und Filme nutzt.
Die Ausstellung zeigt jedoch nicht nur, wie Künstler*innen mit bestehendem Bildmaterial arbeiten und dies in neue Bildstrategien übersetzen, sondern hinterfragt auch die formale Struktur des Mediums Fotografie und ihrer Präsentationsmöglichkeiten. Schon lange hängen Fotos nicht mehr nur »an der Wand«, sondern werden in Installationen, Skulpturen oder als Bildvorhänge gezeigt. Die offene Architektur der Ausstellungsfläche im ersten Obergeschoss der Galerie der Gegenwart mit ihren zahlreichen Fenstern zur Stadt wird auf diese Weise zur Plattform für Bilder von Innen und Außen, etwa bei der großformatigen Videoinstallation der Hamburger Künstlerin Josephin Böttger. Unter dem Motto »Connect« findet hier überdies ein umfangreiches Begleitprogramm zur Ausstellung statt. Damit wird die Galerie der Gegenwart im Jahr ihres 25-jährigen Jubiläums zum aktuellen und gegenwärtigen (»current«) Ort des Austausches und Bildtransfers: Bilder über Bilder, die sich verbreiten, die gepostet, verändert und in neue Zusammenhänge transferiert werden.

PETRA ROETTIG, Leitung Sammlung Kunst der Gegenwart (Graphik und Fotografie, Medien)
STEPHANIE BUNK, Griffelkunst-Vereinigung Hamburg e. V. und
LEONA MARIE AHRENS, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, sind die Kuratorinnen der Ausstellung.