Foto: Romanus Fuhrmann
Hans Makart, Der Einzug Kaiser Karls V. in Antwerpen, 1878, © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford
Karl Schlesinger, Auswanderer setzen. 1851, © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang
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Festakt

Beim Betreten des neu eingerichteten Makart-Saals reiben wir uns verwundert die Augen: süßliche Salonware, geharnischte Geschichtsstücke, hochdekorierte Herrschergestalten, gefühliges Genre und parfümierte Landschaften. Kunst unter Kitschverdacht? Die Wiederauferstehung des Totgesagten? Wo eben noch die Moderne der 1950er-Jahre zu sehen war, feiern nun Hans Makart und seine Riege fröhliche Urständ und entfalten auf edlem Samt eine geradezu bestechende Wirkung, ganz so, als hätten sie schon immer hier gehangen. Zugleich versetzen sie uns zurück in die Anfangszeit der Hamburger Kunsthalle und bringen uns den Geschmack der Gründerjahre nahe – mitsamt ihren Widersprüchen und Anachronismen.

Viele der Werke, allen voran Makarts monumentaler Einzug Karls V. in Antwerpen, verschwanden freilich nicht erst 2016 im Zuge der Wiedereröffnung des Museums von der Wand, sondern fielen schon weitaus früher einem museal verordneten Dornröschenschlaf anheim. Bereits Alfred Lichtwark, der erste Direktor der Kunsthalle, war 1907/08 nicht davor zurückgeschreckt, Makarts 1879 angekauftes »Sensationsbild« ins Depot zu verfrachten. Aufgrund seiner Vorbehalte gegenüber der Kunst des Historismus hatten auch etliche weitere Werke der Gründungssammlung einen schweren Stand. Denn schon bald nach seinem Amtsantritt 1886 war er dem Lockruf der Avantgarde erlegen und erachtete mit Blick auf die Kunst seiner Zeit in erster Linie realistische und impressionistische Werke als zukunftsträchtig.

Auch in Berlin standen die Zeichen damals auf Veränderung. 1906 wurde dort unter maßgeblicher kuratorischer Beteiligung von Lichtwark die Jahrhundertausstellung deutscher Kunst veranstaltet. Diese Leistungsschau gab vor, ein repräsentatives Panorama der Kunst in den deutschsprachigen Ländern zwischen 1775 und 1875 auszubreiten. Das eigentliche Ziel bestand hingegen in der Etablierung eines neuen Kanons. Mit der Brille der Moderne und des Impressionismus wurde nun Rückschau gehalten und dabei auch längst Vergessenes wie Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge zutage gefördert. Auf der Strecke blieben diejenigen Stilrichtungen des 19. Jahrhunderts, die jetzt als antimodern galten: insbesondere die akademische Malerei und die Salonkunst.

Doch mit dieser Neuausrichtung des Kanons wurde zugleich ein ganz bestimmtes Verständnis von der Moderne – einer Moderne im Singular – lanciert, für das ein lineares Modell verbindlich wurde. Demnach führt der Entwicklungsgang der Kunstgeschichte von der Romantik über den Realismus bis hin zum Impressionismus und Post-Impressionismus. Nebenstränge, die nicht in dieses Bild passten, wurden kurzerhand gekappt, parallele Tendenzen bewusst ausgeblendet oder aber pauschal abgewertet und als überholt etikettiert. Das Verständnis von der Moderne geriet so in ideologisches Fahrwasser.

Auf der anderen Seite des Atlantiks markiert Clement Greenbergs 1939 erschienener Essay Avant-Garde and Kitsch in dieser Hinsicht eine wichtige Wegmarke. Die Avantgarde wird von dem Apologeten des Abstrakten Expressionismus darin gleichsam zur Heilsbringerin stilisiert, welche die Gesellschaft davor bewahre, in Kitsch und Konsum zu erstarren. Indem Greenberg »Kitsch« mit »akademischer Kunst« gleichsetzte, stand im Umkehrschluss all das, was mit dieser Kunst in Verbindung gebracht wurde – darunter selbstverständlich auch die malerischen Auswüchse des Salons –, unter Kitschverdacht. Damit waren die entscheidenden Weichen gestellt. In der Nachkriegszeit wurde dieses eindimensionale Moderneverständnis zementiert und fand seine zeitgemäße Einlösung in der ungegenständlichen Kunst.

1960 brachte Werner Hofmann mit seiner wegweisenden Publikation Das irdische Paradies. Kunst im neunzehnten Jahrhundert Bewegung in die Debatte um die Moderne mit ihrer allzu starren und holzschnittartigen Dichotomie aus »richtig« und »falsch«. Darin entfaltet er ein schillerndes Epochenpanorama, das sich aus Dynamiken, Widersprüchen und Gegensätzen speist. Nach der Lektüre scheint eines klar zu sein: Die progressiven Stimmen lassen sich von den regressiven nicht so einfach scheiden. Mit seinem legendären Hamburger Ausstellungszyklus Kunst um 1800 (1974–1981) gelang es ihm außerdem, seine Überzeugung von einem pluralistischen 19. Jahrhundert museal zu reflektieren und gleichzeitig öffentlichkeitswirksam umzusetzen. Und Hofmann war es auch, der 1981 anlässlich seiner Ausstellung Experiment Weltuntergang. Wien um 1900 das Monumentalgemälde von Makart aus dem Depot holte, in dem es sich seit 1939 – aufgerollt – befunden hatte.

Frankophil, wie er war, dürfte er sich daher – trotz seiner Vorbehalte gegenüber der spektakulären Inszenierung – bestätigt gesehen haben, als Ende 1986 das Musée d’Orsay in Paris seine Tore öffnete. Denn dort bekamen die Besucher*innen nicht nur den längst etablierten Kanon französischer Malerei vom Realismus bis zum PostImpressionismus vorgesetzt, sondern in vergleichbarer Stückzahl auch Werke, die aus diesem längst aussortiert worden waren: schwüle Salonfantasien mit viel nackter Haut und makellosen Körpern, orientalisierend-exotische Traumbilder, aber auch Geschichtliches in feinmalerischer Perfektion. Die von Hofmann postulierte Pluralität des 19. Jahrhunderts fand im Musée d’Orsay ihre Einlösung auf musealer Ebene.

Es sollten allerdings noch einige Jahre vergehen, ehe der Schmelz des Salons auch die deutschen Museen erreichte und dafür sorgte, hierzulande ebenfalls eine partielle Rehabilitierung der akademischen Malerei in die Wege zu leiten. 2011 zeigte das Kölner Wallraf-RichartzMuseum das Werk von Alexandre Cabanel in einer vom Couturier Christian Lacroix inszenierten Show. Zu ihrer Entstehungszeit bildeten Cabanels parfümierte Figurenreigen die ideale Angriffsfläche für die Unternehmungen der Impressionisten. Und 2017 glänzte die Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München mit Hauptwerken der Pariser Salonmalerei aus der Sammlung des Musée d’Orsay.

War zu diesem Zeitpunkt in der Hamburger Kunsthalle Makarts Einzug Karls V. in Antwerpen schon nicht mehr zu sehen, dominiert das Monumentalgemälde nun an seinem angestammten Platz den neugestalteten Eröffnungssaal des Museums. Umgeben ist es von Werken, mit denen es dasselbe Schicksal teilt: bereits früh durch das kunsthistorische Raster gefallen zu sein. Und tatsächlich haben viele der Bilder mit unserem geläufigen Verständnis vom Weg in die Moderne auf den ersten Blick wenig zu tun. Wir sehen akribisch ausgearbeitete Historienszenen, die uns in unterschiedliche Epochen zurückführen, ihre Helden als gebrochen und in sich gekehrt schildern und das betreffende Ereignis konsequenterweise wie in einem Period Room inszenieren. Vor dem Bild stehend, haben wir als Betrachter*innen den Eindruck, gleichsam Zeugen der Geschichte zu sein, so nah vermeinen wir den Dargestellten zu kommen. Zugleich sind wir aufgefordert, uns in unser bildliches Gegenüber einzufühlen und Anteil zu nehmen – Geschichte wird auf diese Weise zur sentimentalen Erinnerung, zur emotionalen Begegnung, zum Spektakel. 

In eine vergleichbare Richtung zielen die orientalisierenden Landschaften oder die versammelten Genredarstellungen mit ihrem hohen Maß an Wirklichkeitsverpflichtung. Die Werke wollen den Anschein vermitteln, als befänden wir uns auf einer Expedition oder auf Zeitreise – sei es in den Nahen Osten, in die römische Antike, ins Flandern des 16. Jahrhunderts oder ins französische Rokoko. Mit diesem besonderen Authentizitätsversprechen fügen sich die Darstellungen bestens in die Mediengeschichte des 19. Jahrhunderts. An die damals populären Medien der Laterna magica, des Dioramas, des Panoramas oder auch der Wachsfigurenkabinette knüpften sich Wahrnehmungsformen, die das Publikum durch ein möglichst hohes Maß an Illusion in das dargestellte Geschehen zu involvieren vermochten. Mit der Erfindung der Fotografie etablierte sich schließlich ein Medium, das hinsichtlich der Abbildtreue neue Maßstäbe setzte. Die traditionsreiche Gattung der Malerei hatte sich in diesem Gefüge zu behaupten, bediente sich dabei verstärkt illusionsstiftender Mittel und sollte ihrerseits den frühen Film maßgeblich beeinflussen.

Daher erblicken wir im Makart-Saal nicht nur die Welt mit den Augen und dem historischen und ethnologischen Wissen des 19. Jahrhunderts, sondern tauchen gleichzeitig in die Vorgeschichte unserer eigenen, gegenwärtigen Medienwelt ein. Nicht anders als vor 150 Jahren sind es auch heute die – natürlich noch stärker massenkompatiblen – Bilder, die uns die Welt nahebringen, uns zur Rührung, zur Teilhabe und zur Kritik auffordern, uns verführen und überwältigen, aber ebenso auf die soziale Realität, auf aktuelle Missstände und Katastrophen aufmerksam machen. So können beim Blick auf Karl Schlesingers gemaltes Drama Auswanderer setzen über aus dem Jahr 1851 vor unserem inneren Auge durchaus die medial vermittelten Bilder von Flüchtlingsbooten auftauchen, welche sich dem heutigen kollektiven Bewusstsein eingebrannt haben. Die enorme Kluft, die uns vom allzu gefühligen Bilderschatz des 19. Jahrhunderts zu trennen scheint, wird so plötzlich mühelos überbrückt.

Auf andere, kaum weniger brisante Weise aktuell ist auch das Hauptwerk des Saales, Hans Makarts 1878 entstandener Einzug Karls V. in Antwerpen. Historisch ohne größere Bedeutung, diente die dargestellte Szene in erster Linie der Unterhaltung des damaligen – vorzugsweise männlichen – Ausstellungspublikums. Zwar konnte sich Makart für seine prominente Zurschaustellung weiblicher Akte auf den Augenzeugenbericht Albrecht Dürers berufen – er nahm den Nürnberger Maler sogar, links unterhalb der Tribüne, in sein Bildpersonal auf. Doch während den unbekleideten, lediglich in transparente Schleier gehüllten »Ehrenjungfrauen« im Rahmen des historischen Festzuges von 1520 die Aufgabe zukam, auf Tribünen oberhalb der Schaulustigen in Form von »Lebenden  Bildern» verschiedene Allegorien nachzustellen, platzierte Makart den Reigen der Nackten unmittelbar zu Füßen des Herrschers, der mit der ausgestreckten Rechten unübersehbar seinen Machtanspruch demonstriert. Die plastische Präsenz der in volles Licht getauchten Figuren wurde bereits zu Makarts Zeiten als Affront empfunden. Doch ganz im Sinne von »Sex sells« kalkulierte der Maler bewusst mit dem Skandal. So lancierte er das Gerücht, wonach er die Köpfe dieser Frauen illustren Damen der Wiener Gesellschaft nachempfunden habe. Seine Rechnung ging auf – in ganz Europa pilgerten Hunderttausende zu seinem Monumentalgemälde.

In Zeiten von #MeToo und Cancel-Culture ist es noch viel weniger möglich, unbefangen auf ein Bild zu blicken, das einen dezidiert männlichen Macht- und Besitzanspruch mit unverhohlenem Sexismus kombiniert und auf diese Weise zugleich die überkommenen Geschlechterrollen fortschreibt. Doch hat das Kunstwerk damit seine Existenzberechtigung in einer öffentlich zugänglichen Sammlung keineswegs verwirkt. Im Gegenteil: Als Lehrstück über die Macht der Bilder verrät uns Makarts Gemälde viel über die Geschichte unserer eigenen Identität und deren (bildlicher) Genese in einem Jahrhundert, in dem schon Walter Benjamin die »Urgeschichte der Moderne« begründet sah. Die enorme Bandbreite an Kunstwerken aus dieser Zeit lässt sich wie ein Spiegel dieser zerrissenen, widersprüchlichen und an Gegensätzen reichen Epoche betrachten. Und je aufmerksamer wir in diesen Spiegel blicken, desto deutlicher erkennen wir darin nicht zuletzt die Widersprüche und ungelösten Probleme unserer Zeit. 

MARKUS BERTSCH leitet die Sammlung 19. Jahrhundert an der Hamburger Kunsthalle und hat die Neueinrichtung des Makart-Saals zusammen mit Amelie Baader erarbeitet.