Portrait von Simone Fattal, Paris. Foto: Kathleen Weaver
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Rosa-Schapire-Kunstpreis 2022: die Künstlerin

Die Lebensstationen der 1942 in Damaskus geborenen Künstlerin waren der Libanon, Kalifornien und Paris, wo sie heute lebt und arbeitet. Ihre meist figürlichen Keramikskulpturen wirken überzeitlich, und doch ist in ihnen Geschichte akkumuliert. Fattal ist zur diesjährigen Venedig-Biennale eingeladen, hat derzeit in der Londoner White chapel Art Gallery eine Einzelausstellung und nimmt an der Ausstellung Beirut and the Golden Sixties. A Manifesto of Fragility im Berliner Gropius Bau teil. Fattal war die Lebensgefährtin der Malerin und Schriftstellerin Etel Adnan (1925–2021).

Wenige Tage nach dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine hatte Simone Fattal das Gefühl, wieder an ihren Kriegern arbeiten zu wollen. Krieger sind ein wiederkehrendes Motiv in ihrem skulpturalen Werk. Für Fattal verkörpern sie Stärke, Überleben und Heldenhaftigkeit, und zugleich ist ihrem Material, dem Ton, eine Fragilität eingeschrieben, in der ganz generell die Verletzlichkeit des Lebens aufscheint. »Und natürlich ist für mich«, so Fattal, »ein Krieger nicht jemand, der in ein anderes Land einfällt, sondern jemand, der sein Land verteidigt, der kämpft, weil er angegriffen wurde, und der seine Leute ehrenhaft repräsentiert und für sie Zeugnis ablegt.«
Ihre Skulpturen bestehen aus Keramik, Bronze und Porzellan, sind mal klein, mal lebensgroß, bunt oder naturbelassen, manchmal farbig lasiert. Selbst die zarten, kleinen Figuren sind Titanen. Für die Künstlerin sind sie Helden auch deshalb, weil die labilen, spröde-zerbrechlichen Tongebilde auf dem Weg zum Brennofen nicht kollabiert sind, was durchaus oft passiert: In ihr Werk aber gehen die ein, die ›durchkommen‹.
Diese wehrhaften Figuren entstehen, seit Fattal in den späten 1980er-Jahren plastisch zu arbeiten begann. Vorher, in ihrer Zeit in Beirut, hat sie gemalt: abstrakte Landschaften in wundervoll lichten Gelb-, Pink- oder Türkistönen. »Ich wohnte damals im elften Stock eines Hochhauses und war hingerissen vom Blick auf Wolken, Berge und Himmel, ihre Farbnuancen und den ständigen Wandel ihrer Erscheinungen.« Als sie 1980, zermürbt vom andauernden Bürgerkrieg, nach Kalifornien ging, fand sie nichts mehr, was sie malen wollte. Sie widmete sich zuerst einem Verlag für experimentelle Literatur und fand 1988 zur Arbeit mit Ton. 
Dabei folgt ihre Imagination nicht mehr den Augen, sondern einer inneren Landschaft: der Erinnerung an ihre Geburtsstadt Damaskus, an Beirut, die Wüste, Mesopotamien und die alten Hochkulturen. Oft absichtslos und nur manchmal mit einer klaren thematischen Vorgabe formen ihre Hände aus dem erdigen Material Wolken, Häuser, Leitern und immer wieder Figuren mit Bezügen zum Gilgamesch-Epos, zur Odyssee oder der Bibel. In ihren archetypischen Gestalten sind aber die Ereignisse der jüngsten Geschichte gleichermaßen aufbewahrt: der Irakkrieg, der libanesische oder syrische Bürgerkrieg. Insofern sind diese Arbeiten – etwa die Stehenden mit ihren überlangen und massiven Beinen – zeitlos und dennoch politisch.
Fattal hatte 2019 eine Retrospektive im MoMA PS1, und sie ist – mit fünf Skulpturen im Scarpa-Garten – auf der diesjährigen Venedig-Biennale vertreten. Einen Preis aber hat sie vor dem Rosa-Schapire-Kunstpreis überraschenderweise noch nicht bekommen: »Umso mehr«, sagt sie, »bin ich stolz, glücklich und dankbar.«
In der aktuellen Beirut-Ausstellung im Gropius Bau wird auch einer ihrer Krieger gezeigt. Er begleitet eine große Wandarbeit, auf die Fattal eine Verszeile von Etel Adnan geschrieben hat: »In our country the rain will always be made of bullets.«

Text und Interview: Karin Schulze