John William Waterhouse, Kirke reicht Odysseus den Trinkbecher, 1891, Öl auf Leinwand, 148 × 92 cm © Gallery Oldham
Brigitte Jürgenssen, Ohne Titel (Olga), 1979, SX 70 Polaroid, 10,5 × 8,7 cm © Birgit Jürgenssen, Estate Birgit Jürgenssen / Bildrecht Vienna, 2022; Courtesy Galerie Hubert Winter, Foto: pixelstorm © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Edvard Munch, Vampir im Wald, 1916–1918, Öl auf Leinwand, 149,2 × 136,8 cm, CC BY-NC-SA 4.0 Munchmuseet, Foto: Ove Kvavik
Dante Gabriel Rossetti / Henry Treffry Dunn, Lady Lilith, 1867, Aquarell und Gouache, 51,3 × 44 cm, New York, The Metropolitan Museum of Art, Rogers Fund, 1908, Foto: (OA) Open Access / Public Domain
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Blickmacht

Die Ausstellung Femme fatale. Blick – Macht – Gender widmet sich dem Mythos der verführerischen, unheilbringenden Weiblichkeit – und seiner Dekonstruktion. Ina Hildburg-Schneider im Gespräch mit den Ausstellungsmacher*innen Markus Bertsch und Ruth Stamm:


Lieber Herr Bertsch, seit wann reift das Ausstellungsthema Femme fatale in Ihnen, und wie sind Sie darauf gekommen?

Markus Bertsch: Das reicht schon einige Jahre zurück. Ich selbst habe kein besonderes Faible für dergestalt etikettierte und charakterisierte Frauen in Bildern, sondern mich interessieren vielmehr grundsätzliche Fragen: Wie schauen Männer auf Frauen, wie schauen Frauen auf Frauen, und wie verändert sich das über die Zeit – bis hin zur Auflösung fixer Geschlechtergrenzen. Es war klar, dass wir dieses brisante Thema unbedingt vom 19. Jahrhundert in unsere Gegenwart ziehen müssen, um mit ein paar Klischees über typische Femme-fatale-Exponate aufräumen zu können.

Gibt es »die« Femme fatale, oder bringen unterschiedliche Zeiten und Stile verschiedene Erscheinungsformen hervor?

Bertsch: Es gibt deutliche und auffällige Transformationen auf der langen Wegstrecke des Motivs. Wir verlegen den Anfang schon in die Zeit kurz nach 1800, als das Thema der Femme fatale, ausgehend von der Literatur, allmählich in die bildende Kunst einwandert. Dann lässt sich eine starke Welle ab der Mitte des 19. Jahrhunderts beobachten. England mit seinen Präraffaeliten ist da wichtig, aber auch die Salonmalerei in Frankreich. Daraufhin setzen die komplexen und vielschichtigen symbolistischen Schöpfungen ein, die auch mystische und esoterische Akzente setzen. Anschließend wird es dann deutlich realitätsbezogener: Die Frauenfiguren eines Franz von Stuck oder Gustav Klimt bestechen durch ihre Verschränkung des Mythos mit einer geradezu als gegenwärtig erlebten Präsenz. Sie haben eine forcierte sinnliche Wirkung, die sich auch heute noch auf uns überträgt. Dann folgt zur Jahrhundertwende die Tendenz, konkrete, reale Frauengestalten mit dem Label der »Femme fatale« zu etikettieren. Mit dem Kult um die Schauspielerin Sarah Bernhardt geht das los.

Also starten Sie mit Ihrer Ausstellung früher, als üblicherweise von der Femme fatale gesprochen wird. Warum gehört die Loreley für Sie mit dazu?

Bertsch: Im Zuge ihrer Rezeption wird die Loreley nach und nach zu einer Femme fatale stilisiert, die damit den klassischen fatalen Frauen des 19. Jahrhunderts durchaus nahesteht. Und sie ist natürlich auch ein prominentes Beispiel der im frühen 19. Jahrhundert grassierenden »Nixomanie« mit ihrem Mix aus Anziehung und Bedrohung. Schon Goethe hat 1779 mit seiner Ballade Der Fischer diesen Ton angeschlagen: Der Fischer sitzt am Wasser, als plötzlich eine Nixe vor ihm auftaucht und ihn schließlich verführt. Das Ende ist bekannt: »Halb zog sie ihn, halb sank er hin und ward nicht mehr gesehn.«

Nymphen und Hylas spielten im Waterhouse-Skandal in Manchester eine Rolle. Sonia Boyce hat Anfang 2018 im Rahmen einer Performance das Werk Hylas und die Nymphen von John William Waterhouse abhängen lassen, stellvertretend für viele andere Werke. Wie gehen Sie darauf ein?

Bertsch: Wir freuen uns, dass Sonia Boyce, die in diesem Jahr auf der Biennale in Venedig den englischen Pavillon bespielt und dafür mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, mit einer kritischen Installation in unserer Ausstellung vertreten ist. Als wichtige Stimme des Black Arts Movement hat sie verschiedentlich über Geschlechterverhältnisse und rassistische Machtstrukturen nachgedacht. In Manchester hat sie zu Recht thematisiert, weshalb es in einem Raum, der den sinnlich wie ätherisch aufgeladenen Frauengestalten der Viktorianischen Kunst huldigt, keine kritischen Vermittlungsebenen gibt. Leider wurde ihr Anliegen in der Presse allzu verkürzt dargestellt und auf Fragen von Kunstfreiheit und Zensur verengt. Wir haben nun einen Raum in unserer Ausstellung, der ausschließlich Kunst des englischen Viktorianismus und der Präraffeliten zum Gegenstand hat und auch zwei bedeutende Waterhouse-Gemälde zeigt, die wir mit Boyce’ Video-Arbeit Six Acts zu ihrer Performance in Manchester räumlich zusammenführen. So können wir unserem Publikum deutlich machen, dass es ihr nicht um Canceln und Abhängen ging.

Ruth Stamm: Und gleichzeitig hoffen wir, dass die Arbeit Six Acts auch unsere Besucher*innen anregt, das präraffaelitische, sehr weiß geprägte Schönheitsideal und die viktorianische Idee der Femme fatale kritisch zu reflektieren und die Bilder der Ausstellung auch vor diesem Hintergrund zu betrachten.

Salome, Medusa, Sirenen, Sphinx, Eva und Lilith – ohne das Wissen um all die Figuren und Geschichten kann man die Bilder nicht gleich verstehen. Wie helfen Sie den Besucherinnen und Besuchern auf die Sprünge?

Bertsch: Wir haben ein gedrucktes Heft und einen Multimedia-Guide im Einsatz, der rund 30 Stationen beinhaltet. Es sind viele Möglichkeiten vorhanden, sich vertiefende Informationen zu holen. Die Frage ist gerechtfertigt: Unser Wissenskanon hat sich verlagert und diversifiziert, vieles ist auch mir nicht klar gewesen, bis ich intensiv in bestimmte Mythen eingetaucht bin. Die Ausstellung ist zudem weitestgehend chronologisch und nicht thematisch gehängt. Die Figuren begegnen uns auf dem Parcours immer wieder, da mussten wir schon zusehen, dass wir über die Begleitmedien die Bezüge herstellen, damit wir unser Publikum nicht alleine lassen.

Gustave Flaubert erfand vor 160 Jahren in seinem Roman Salammbô die gleichnamige Protagonistin. Er stattete sie mit allen Attributen einer Femme fatale aus: Schönheit, Verführungskraft und List. Das Thema wird ein Erfolg, vor allem als Oper. Auch der Münchner Künstler Carl Strathmann malt Salambo 1895. Wie erklären Sie sich diesen »Hype«?

Bertsch: Flaubert hat mit Salammbô einfach den Nerv der Zeit getroffen: 1862 ist das Buch erschienen, also in der Hochzeit des Orientalismus, der eine Fülle neuer Motive hervorbrachte, die jedoch mit den realen Verhältnissen kaum etwas zu tun hatten. Flaubert entwirft die Geschichte der fiktiven titelgebenden Gestalt, die er im Karthago des 3. vorchristlichen Jahrhunderts verortet. Der Roman ist in einigen Passagen sexualisierend-explizit, wenn etwa die sich aufrichtende Schlange als offensichtliches Phallus-Symbol zu lesen ist. Der »Hype« beginnt demnach in Frankreich. Wir zeigen beispielsweise eine lebensgroße Salammbô-Skulptur von Jean-Antoine-Marie Idrac von 1881. Dann taucht Salambo im Münchner Umfeld auf. Beispielsweise schuf Carl Strathmann, ein wichtiger Jugendstil-Illustrator, zwei großformatige Salambo-Darstellungen, von denen wir beide zeigen werden. In unterschiedlichen Medien wie der Oper, in diversen literarischen Anverwandlungen, in Bühnenstücken, in der Kunst bis hin zu frühen Stummfilmen aus den 1910er-Jahren wird das Thema behandelt. Wir wollten zeigen, was durch einen einzigen Roman ausgelöst wurde, der rein fiktiv ist, aber vorgibt, er würde eine historische Wahrheit schildern. Deshalb bekommt
auch Salambo einen prominenten Platz bei uns.

Ist das Mythenwissen für die zeitgenössische Kunst noch nötig?

Stamm: Ja, denn die mythologischen Figuren wurden sich seit den 1960er-Jahren bis heute oft neu angeeignet und künstlerisch uminterpretiert. In der feministischen Kunst spielt zum Beispiel Lilith eine wichtige Rolle: Nach der jüdischen Mythologie ist sie die erste Frau Adams, die ihm ebenbürtig war, sich sexuell nicht unterordnen wollte und den Garten Eden verlassen hat. Sie wird auf verschiedene Weise – und häufig emanzipatorisch – rezipiert. Bei Sylvia Sleigh ist sie eine Figur, in der sich männliche und weibliche Silhouetten überlagern, sodass einerseits die Ebenbürtigkeit von Lilith und Adam dargestellt wird und andererseits eine Non-Binärität ins Bild kommt, was ich sehr interessant finde. Wir vermitteln den Besucher*innen diese Figuren und ihre unterschiedlichen Lesarten auch über die App und über den erstmaligen Einsatz eines Chatbots, sodass gerade jüngere Besucher*innen abgeholt werden und sogar mit den Figuren im Bild einen Dialog führen können.

Verarbeiten die Künstler der Zeit mit der Darstellung der Femme fatale ihre Ängste vor den frühen emanzipatorischen Bewegungen im 19. Jahrhundert?

Stamm: Ich glaube, dass das Bild schon etwas mit einer erstarkenden Frauenbewegung im 19. Jahrhundert zu tun hat, die sich ab 1865 immer mehr institutionalisiert – bis hin zum Frauenwahlrecht. Das ist genau die Zeit, in der die klassischen Femme-fatale-Bilder entstehen. Aber das ist nicht alles. Dazu kommen noch etliche andere Aspekte, weitere Emanzipationsbewegungen, damit verbunden aber auch Ängste und Projektionen. Gerade Orientalismus und Antisemitismus spielen in das Femme-fatale-Bild mit hinein.

Bertsch: Und die Selbstwahrnehmung des Mannes ist auch über die Zeit eine ganz unterschiedliche gewesen. Das wird häufig übersehen. Es gibt das Zeitalter der Décadence in Frankreich, in dem sich der männliche Künstler selbst als hinfällig sieht und sich dergestalt als Opfer der scheinbar übermächtigen Frauen stilisiert. Ob das feste Überzeugung ist oder Inszenierung, sei dahingestellt. Das Gefüge war ungeheuer komplex und erlaubt ganz unterschiedliche, mitunter auch widersprüchliche Lesarten der Femme fatale.

Im beginnenden 20. Jahrhundert wandeln sich die Vorbilder für die Darstellung der Femme fatale. Jetzt zeigen die Kunstwerke »echte« Frauen. An wen denken Sie als Erstes?

Bertsch: Ich denke an die bereits erwähnte Sarah Bernhardt, an Alma Mahler, Anita Berber. Plötzlich wurden lebende Personen als »Femmes fatales« bezeichnet. Sie machten sich teilweise sogar selbst die Merkmale einer Femme fatale zu eigen – oder sie waren, wie im Fall von Alma Mahler, das Produkt einer Obsession. Ja, Oskar Kokoschka trieb es mit seiner Verehrung für Alma Mahler besonders weit. Das dokumentiert eine Fotoserie in der Ausstellung.

Stamm: Kokoschka hat eine Fetischpuppe nach Alma Mahler bei der Puppenmacherin Hermine Moos anfertigen lassen, nach seinen sehr dezidierten, teilweise auch explizit körperlichen Vorstellungen. Sein Wunsch nach einer möglichst lebensechten Puppe wurde allerdings nicht erfüllt – das Ergebnis enttäuschte ihn sehr. Die Fotos in unserer Ausstellung zeigen die Puppe, die ihm viele Male als Modell diente, drapiert in verschiedenen Posen. Nachdem Kokoschka etliche, teils wiederum verlebendigende Gemälde und Zeichnungen nach der Puppe geschaffen hatte, endete die Geschichte mit deren gewaltvoller Vernichtung. Letztlich entledigte Kokoschka sich so der Figur Mahlers, die er stilisiert, obsessiv gesucht und gleichzeitig dämonisiert hat.

Ist der Erste Weltkrieg eine Zäsur in der Geschichte des Motivs?

Bertsch: Ich denke schon. All das, was als mythische Referenz vorher noch präsent war, löst sich auf, und man stellt sich in der Kunst stärker den aktuellen politisch-gesellschaftlichen Realitäten. Bestimmte Weiblichkeitsbilder laufen aus. Der klassische Typus der Femme fatale erodiert und verschwindet.

In der Zwischenkriegszeit entwickelt sich die »Neue Frau« – ist sie die weibliche Interpretation der Femme fatale?

Stamm: Die Neue Frau war kein konkretes Gegenbild zur Femme fatale, aber ein neues, durchaus auch stilisiertes, emanzipiertes Frauenbild, das sich mit der erstarkenden Frauenbewegung entwickelte. Tatsächlich gelebt wurde dieses Idealbild nur von sehr wenigen Frauen aus eher elitären Kreisen, die es sich leisten konnten. Der damit einhergehende »Frauentypus« mit Bubikopf und Zigarette hat sich dafür umso mehr in der Kunst niedergeschlagen und bietet natürlich ein ganz anderes Narrativ als die Femme fatale.

Jeanne Mammen ist eine der ausgestellten Künstlerinnen des frühen 20. Jahrhunderts. Sie genoss eine Ausbildung in Paris und Brüssel. Dort entstanden einige der gezeigten Blätter. Schafft sie mit dem Herzensstecher einen »Homme fatale«?

Bertsch: Das macht sie definitiv. Der Herzensstecher ist eine Figur, die mich schon in der Frankfurter Ausstellung Geschlechterkampf 2016 fasziniert hat und die sich als Pendant zum übermächtigen Femme-fatale-Motiv lesen lässt. Mammen ist eine sehr eigenständige Künstlerin, die ganz viele Einflusssphären in ihrem Werk zusammengebracht hat und in Brüssel mit Jean Delville und Fernand Khnopff wichtige Lehrer hatte, die beide in unserer Ausstellung vertreten sind. Beide thematisierten in ihrer Kunst das Verhältnis der Geschlechter und schufen zum Teil bereits androgyne Figuren. Mammen setzte sich mit diesem symbolistischen Erbe produktiv auseinander, kreierte aber eigenständige, davon abweichende Bilder von Männlichkeit und vor allem von Weiblichkeit.

Betty Tompkins, Mary Beth Edelson und Nan Goldin greifen Marilyn Monroe in ihren Werken auf. Warum?

Stamm: Marilyn Monroe ist in den 1950er-Jahren ein Weltstar und »Sexsymbol« und wird vielfach künstlerisch rezipiert. Man muss nur an Andy Warhols Siebdrucke denken. Die genannten Künstlerinnen persiflieren und modifizieren dieses Bild auf sehr unterschiedliche Weise. Zum Beispiel Nan Goldin: Die Künstlerin hat in den Siebzigern in Boston gelebt und dort auch die queere Szene kennengelernt, hat mit Transpersonen, non-binären Personen und Dragqueens zusammengelebt, Beziehungen geführt und ihr gemeinsames Leben in ihren ersten Fotografien festgehalten. Auf einigen dieser Fotos zeigt sie Freund*innen, die in Drag-Shows als »Marilyn« auftreten. Die Schauspielerin wird sich hier als überspitzt weiblich stilisierte Figur angeeignet, Weiblichkeit wird so zugleich als »performbar« markiert – was letztlich verdeutlicht, wie kontingent eigentlich die Kategorie »Geschlecht« ist.

Wird das im 19. Jahrhundert bei Männern so beliebte Thema in der Kunst ab den 1960er-Jahren insgesamt eher von Frauen adaptiert?

Bertsch: Was wir aus den 1960er-Jahren zeigen, ist eine dezidiert feministische Kunst, die bestimmte Bilder und Vorstellungsweisen von Weiblichkeit nutzt, um diesen eine veränderte Sichtweise und selbstbewusste Positionen entgegenzusetzen. Mit dem Mythos der Femme fatale hat dies nur noch mittelbar zu tun. Es ist eher eine Auseinandersetzung im Wissen, dass da lange etwas existent war, um daraus Gegenbilder zu generieren, die in die Zukunft weisen.

Stamm: Den Künstler*innen geht es in dieser Zeit darum, bestimmte stereotype Frauenbilder zu unterwandern und überkommene Narrative von Weiblichkeit zu unterbrechen. Wenn man an VALIE EXPORTs Aktion Tapp- und Tastkino denkt, bei der sie eine Miniatur-Kino-Attrappe umgeschnallt hat und Leute auffordert, darin in der Öffentlichkeit ihre Brüste zu berühren, ist das sowohl ein Ausdruck von Macht als auch das Umdrehen von Blickverhältnissen, ein Vorführen von Voyeurismus. So nimmt sie natürlich all die Bildtraditionen aufs Korn, die für das Bild der Femme fatale wichtig waren. Die Arbeit ist aber keine Adaption des Femme-fatale-Bildes, sondern schafft neue Macht-, Blick- und Geschlechterkonstellationen.

Ihre Ausstellung trägt ja den Untertitel Blick – Macht – Gender. Wessen Blick, wessen Macht, warum Gender?

Stamm: Wir hatten zunächst einen anderen Untertitel: Von der männlichen Fantasie zur weiblichen Emanzipation. Im Zuge unserer Recherche haben wir uns aber dagegen entschieden, weil der alte Titel ein sehr binäres und enges Narrativ wiedergegeben hätte. So wurde es Blick – Macht – Gender.

Bertsch: Der jetzige Titel ist offener, aus unterschiedlichen Richtungen lesbar und hat mehrere Ebenen. Er funktioniert sowohl aus der Besucher*innenperspektive als auch auf der Werkebene.

Stamm: »Blick« beispielsweise kann man auf die Blickmacht beziehen, die der Femme fatale zugeschrieben wird und die auch in vielen der Werke dominant ist. Es geht aber natürlich auch um den männlichen Blick, den male gaze, der in unserer Ausstellung eine wichtige Rolle spielt und das Bild der Femme fatale erst mitkonstruiert hat. Genauso beziehen wir uns auch auf den feministischen »Blick zurück«. Und nicht zuletzt geht es darum, wie wir und die Besucher*innen heute auf die Bilder blicken. »Gender« ist ein Statement: Natürlich sehen wir das Femme-fatale-Bild nicht als naturalisiertes Frauenbild und möchten es keinesfalls als solches reproduzieren. Es ist ein gesellschaftlich konstruiertes Bild von Geschlecht. In diesem Sinne, was am Anfang gar nicht beabsichtigt war, stellt sich auch der Untertitel als Dreiklang mit Doppeldeutigkeit dar. »Blick m(M)acht Gender« sagt: Blicke stellen Geschlecht her.

Wie sehr muss denn eine Ausstellung die aktuellen gesellschaftlichen Diskurse berücksichtigen?

Bertsch: Jede Ausstellung sollte den Anspruch haben, diese aufzugreifen und darüber hinaus weiterführende Perspektiven zu eröffnen. Ansonsten hätten derartige Projekte etwas Starres und Statisches. Ein paar Schärfungen sind also erforderlich, gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten- und Diskussionskultur.

Stamm: Ich empfinde die aktuellen Debatten zu Gender-Identitäten nicht als Zwang, dem wir uns unterwerfen müssen, sondern profitiere von der Auseinandersetzung damit und denke auch, dass die Ausstellung einen starken Beitrag dazu leisten kann. Es geht um ein Frauenbild, in dem weibliche Sexualität dämonisiert wird. Das ist leider ein nach wie vor aktuelles Thema.

Wie hätte diese Ausstellung vor 20 Jahren ausgesehen?

Bertsch: In den frühen 2000er-Jahren wären die Berührungsängste sicherlich weniger ausgeprägt gewesen, was das Thema der Femme fatale anbetrifft. Das ist heute – völlig zu Recht – zu einem brisanten, herausfordernden Feld geworden. Auf alle Fälle sind wir uns jetzt gewisser Fallstricke und Problemfelder stärker bewusst, die womöglich damals nur wenig Berücksichtigung gefunden hätten. Aber das ist nur von Vorteil, denn dadurch finden gesellschaftsrelevante Fragestellungen stärker Eingang in unser Projekt, und wir stehen nun vor der Herausforderung, nach Anschlussmöglichkeiten zu suchen.

Stamm: Ich glaube zum Beispiel, dass vor 20 Jahren hauptsächlich über ein binäres Geschlechtersystem argumentiert worden wäre, und das versuchen wir jetzt zu öffnen. Es ist klar, dass das »klassische« Femme-fatale-Bild binär strukturiert ist, aber wir wollen schauen: Eignet man sich das heute auch jenseits einer binären Sichtweise an?

Die #MeToo-Debatte spielt im Kontext der Ausstellung eine Rolle – in welcher Form?

Stamm: Bei #MeToo geht es im engeren Sinne darum, dass ab 2017 sexualisierte Übergriffe und Gewalt vor allem in Social Media öffentlich problematisiert wurden. Damit einher gehen auch ein verändertes Bewusstsein und eine veränderte Sensibilität für Frauenbilder im Allgemeinen. Das reflektieren wir in der Ausstellung natürlich durchgehend. Eine Arbeit behandelt das Thema sogar explizit: Betty Tompkins’ Serie Apologia. Sie überschreibt Abbildungen von historischen Kunstwerken mit Zitaten von Personen, die im #MeToo-Kontext beschuldigt wurden, und verbindet so künstlerische Frauendarstellungen, stereotype ebenso wie emanzipatorische, mit ganz konkreten Fällen von Übergriffen. Sie betont damit, wie sehr Bilder letztlich auch mit körperlichen Erfahrungen verknüpft sind.

2016/17 gab es die umfangreiche Ausstellung Geschlechterkampf im Frankfurter Städel Museum; Sie haben sie vorhin schon kurz erwähnt, Herr Bertsch. Das damalige Werbemotiv war Gustav Adolf Mossas Sie von 1905, eine nackte überzeichnete Schönheit. Warum haben Sie sich für Kirke reicht Odysseus den Trinkbecher von John William Waterhouse aus dem Jahr 1891 entschieden, eine vergleichsweise zurückhaltende Darstellung?

Bertsch: Mossas Sie ist ein extrem plakatives Motiv, aber es situiert das Thema bereits in einem eher grotesken Rahmen. Das spiegeln wir nur in einem kleinen Kapitel der Ausstellung wider, weshalb dieses Plakat nicht wirklich passend für unser Projekt gewesen wäre. Waterhouse hingegen ist eine entscheidende Figur für uns, da er das Bild der Femme fatale in England maßgeblich geprägt hat. Die Wirkmacht dieses Typus wird durch die Komposition deutlich. Seine Kirke ist zudem ein klassisches Femme-fatale-Thema. Wir sind aber auch froh, dass wir noch ein zweites Motiv ins Rennen schicken konnten.

Als zweites Plakatmotiv haben Sie ein Motiv von Birgit Jürgenssen gewählt. Sie gehört neben VALIE EXPORT und Maria Lassnig zur feministischen Avantgarde der 1970er-Jahre. Frau Stamm, warum haben Sie sich für diese Fotografie entschieden?

Stamm: Die Ausstellung behandelt das 19. und frühe 20. Jahrhundert und dann die Kunst ab den 1960er-Jahren. Das erste Motiv würde dieses Spektrum nicht wiedergeben, deshalb haben wir noch einen Gegenpart gesucht. Birgit Jürgenssens Polaroid Ohne Titel (Olga) zeigt eine Katze, deren Gesicht maskenartig von den stereotypen Gesichtszügen einer Frau überlagert wird. Die Künstlerin spielt mit Klischees weiblicher Erotik, durch die Tier- und Felldarstellung auch mit dem Stereotyp animalischer Sexualität, die Frauen im Femme-fatale-Bild zugeschrieben wird. Das Ganze wird durch das Ironisch-Humorvolle des Bildes ad absurdum geführt. Gleichzeitig findet eine Umkehr der Blickverhältnisse statt: Die Katze schaut uns durch diese Maske an, wir können sie aber nicht gänzlich erkennen.

Auf welche Werke freuen Sie sich am meisten?

Bertsch: Ödipus und die Sphinx, dieses riesige Bild von Gustave Moreau aus dem Metropolitan Museum in New York, ist natürlich ein besonderer Coup. Das Gemälde darf im Regelfall überhaupt nicht reisen, aber das Museum macht nun eine Ausnahme, weil wir 2025 Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer dorthin ziehen lassen. Dann bin ich sehr froh, dass wir noch ein großes Vampir-Gemälde von Edvard Munch aus dem Munch-Museum in Oslo bekommen. Viele weitere Leihgaben ließen sich noch anführen.

Stamm: Ich freue mich besonders auf die aktuellen Videos von Nan Goldin, Sirens und Salome. Sirens wird gerade noch auf der Biennale in Venedig gezeigt. Auch die Künstlerin selbst freut sich, dass sie mit den Videos Teil der Ausstellung ist. Ihre frühe Arbeit The Ballad of Sexual Dependency hat die Hamburger Kunsthalle als eine der ersten Institutionen ausgestellt und angekauft, nun können wir wiederum sehr früh ihre neuesten Videoarbeiten zeigen.

Waren Sie als Team immer einer Meinung? Konnten Sie voneinander lernen?

Bertsch: Im Großen und Ganzen schon. Und wenn nicht, haben wir immer einen Weg gefunden, wie wir unsere Sichtweisen kuratorisch produktiv nutzen konnten. Ruth hat diverse Akzente gesetzt, sich eigenständig eingebracht und maßgebliche zeitgenössische Positionen recherchiert, die mir zum Teil gar nicht bekannt waren. Ihre Sichtweisen haben meine Perspektiven geweitet, meine Wahrnehmung geschärft. Ohne Ruth wäre die Ausstellung eine andere geworden. Und das ist durchweg positiv gemeint. Es war – und ist – eine inspirierende Art der Zusammenarbeit.

Stamm: Das kann ich nur unterstreichen: Wir sind nach wie vor in einer produktiven Auseinandersetzung über das Thema. Mir hat es sehr geholfen, mit Markus die Themen und aktuellen Diskurse, die ich im Kopf hatte, noch mal zu hinterfragen, meine Standpunkte zu festigen – oder auch zu ändern. Ich habe dabei extrem viel gelernt. Für mich war eher das Femme-fatale-Bild im 19. Jahrhundert unscharf; hier hat mich unser Austausch wirklich sehr bereichert. Und ich bin natürlich dankbar für die Chance, mich in vielerlei Hinsicht mit meinen Ideen und Perspektiven einbringen zu können.

Und gehen Sie nun anders durch die Sammlung des 19. Jahrhunderts?

Stamm und Bertsch zeitgleich (lachen): Ja!

Bertsch: Ja, klar. Aufgrund der intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema schaue ich nun insgesamt ganz anders auf Repräsentationen von Weiblichkeit in der Kunst.


 

MARKUS BERTSCH leitet die Sammlung 19. Jahrhundert an der Hamburger Kunsthalle und ist Kurator.

RUTH STAMM ist Projektassistentin für die Ausstellung Femme fatale. Blick – Macht – Gender.

INA HILDBURG-SCHNEIDER ist Kunsthistorikerin und seit 2022 Redakteurin bei den Freunden der Kunsthalle.