Käthe Kollwitz (1867–1945) Deutschlands Kinder hungern!, 1923 Kreidelithographie (Umdruck von einer Zeichnung), Kupferstichkabinett © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Christoph Irrgang
Robert Desnos (1900–1945) La mort de Max Ernst, 1923, Dauerleihgabe aus Privatsammlung, Hamburg © Hamburger Kunsthalle / bpk Foto: Elke Walford
Max Liebermann, Dame mit Pelz im Lehnsessel, 1923, Radierung (Kaltnadel), 208 × 128 mm, (c) Hamburger Kunsthalle/bpk, Foto: Elke Walford
 Rudolf Belling (1886–1972) Skulptur 23, 1923 (Guss 1966) Messing, Dauerleihgabe der Stiftung Hamburger Kunstsammlungen © SHK / Hamburger Kunsthalle / bpk /  VG Bild-Kunst, Bonn 2023 Foto: Elke Walford
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Zeichen der Zeit – Das Jahr 1923 in Bildern

In Berlin – mit 3,8 Millionen Einwohnern nach London und New York die drittgrößte Stadt der Welt – beginnt das neue Jahr mit einer Darbietung von Anita Berber: Morphium. Mit der Nadel in der Hand bringt die Tänzerin die Auswirkungen der Droge ganz plastisch auf die Bühne des »Intimen Theaters«. Zu Beginn der Aufführung spritzt sie sich Kokain in den Oberschenkel, und schon untermalt die Ausdrucksmusik des Russen Mischa Spoliansky die Zuckungen ihres Körpers. Betäubung und Ekstase, Elend und Beschleunigung liegen 1923 geradezu unheimlich nah beisammen, und so mutet dieser Auftakt im Rückblick prophetisch an.

Ruhrbesetzung und Hyperinflation
Bis heute gilt das Jahr 1923 als Zeit der Extreme und rascher, dramatischer Entwicklungen in Politik und Gesellschaft: Da Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg mit Reparationszahlungen im Verzug ist, entsenden die Regierungen Frankreichs und Belgiens Truppen ins Ruhrgebiet. Sie übernehmen die Kontrolle über die Kohleförderung, um ausstehende Zahlungen zu erzwingen. Die Reichsregierung ruft zum passiven Widerstand auf, und so stehen die Hochöfen und Zechen still, während die Arbeiter weiterhin ihr Entgelt erhalten. Dieses Geld hat jedoch längst keinen Gegenwert mehr – die Golddeckung der Mark war bereits 1914 aufgehoben worden –, und die Lohnfortzahlungen schwächen die vom Krieg gebeutelte Wirtschaft der jungen Weimarer Republik noch mehr. Eine Abwärtsspirale setzt ein, die in einer galoppierenden Inflation, der Hyperinflation, endet: Ersparnisse auf der Bank verlieren innerhalb von Monaten, Tagen und schließlich Minuten ihren Wert. Im November 1923 wird sich die Währung durch die Einführung der Rentenmark wieder stabilisieren, die belastende Ruhrbesetzung hingegen wird noch bis zum September 1925 andauern.

Glanz und Elend

Die wegen der Auswirkungen des Ersten Weltkriegs ohnehin prekären Lebensumstände der Menschen verschlimmern sich rapide. Der Großteil der Deutschen ist mittellos, hat Ersparnisse oder Kriegsanleihen verloren, die überfüllten Städte mit ihrer eng gedrängten Einwohnerschaft verelenden. Davon legt die Kunst des Jahres1923 oft bewegendes Zeugnis ab. Sie zeigt die Not, Armut und Verzweiflung breiter Bevölkerungsschichten in schonungslosen Bildern, so etwa die Berlinerin Käthe Kollwitz mit ihrem Plakataufruf Deutschlands Kinder hungern!.
Gewinner sind jene Bürgerinnen und Bürger, die Immobilien, Gold oder anderen Sachbesitz ihr Eigen nennen, denn deren Schulden haben sich häufig in nichts aufgelöst. Auch die in Deutschland lebenden Angehörigen anderer Staaten profitieren, da sie Devisen besitzen, die nicht der Inflation unterliegen – mit ausländischem Geld in den Taschen wird man zum »Krösus«. Die begüterte Bourgeoisie kann jedenfalls ein mondänes Leben genießen, wie etwa Max Liebermann in seiner Radierung Dame mit Pelz im Lehnsessel illustriert. Der Gegensatz zwischen größter Armut bei den Massen und wachsendem Reichtum bei einigen wenigen wird aber nicht nur an den Häusern und Wohnungen immer deutlicher sichtbar. Er zeigt sich auch auf der Straße, das belegt Otto Dix mit seinen Darstellungen von erschöpften Müttern mit kranken Kindern oder grell geschminkten, flanierenden Prostituierten.

Kampf um die Republik

In der noch jungen Demokratie manifestieren sich rasch politische Spannungen, welche die Weimarer Republik bis an ihr Ende begleiten werden. Der umstrittene liberale Außenminister Walther Rathenau wird am 24. Juni 1922 in Berlin von nationalistisch und antisemitisch gesinnten Attentätern erschossen – und schon im Folgejahr vom jüdischen Bildhauer Benno Elkan in einer Büste verewigt. Ein deutschlandweit geplanter bewaffneter Aufstand der Kommunisten im Oktober 1923 wird zwar am Vorabend abgesagt. Aus bislang ungeklärten Gründen stürmen die Genossinen und Genossen in Hamburg unter der Führung Ernst Thälmanns am Morgen des 23. Oktobers dennoch mehrere Polizeiwachen. Besonders in Barmbek liefert man sich einen Tag lang harte Kämpfe, bevor die Kommunisten aufgeben müssen.
Auch in München wird ein Putsch ersonnen, allerdings von rechter Seite. Schon seit einiger Zeit erfährt die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) großen Zulauf, und aus verschiedenen Flügeln der Partei werden Rufe nach einem Umsturz laut. Am 8. November proklamiert Adolf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller die »nationale Revolution«, der sich ein »Marsch auf Berlin« anschließen soll. Beides wird noch am selben Tag von Polizei und Reichswehr unterbunden, ein Demonstrationszug am Folgetag scheitert ebenfalls. Hitler wird festgenommen, die NSDAP reichsweit verboten. Die Putschversuche verdeutlichen sich verschärfende Konflikte, zeigen in ihrem Misslingen aber auch die Stärke und Widerstandsfähigkeit der noch jungen Republik auf. Nationale Erzählungen und Identitäten sind 1923 für Künstlerinnen und Künstler durchaus ein Thema: So bebildert beispielsweise Lovis Corinth in zwölf Lithographien die Geschichte von Wilhelm Tell, des seit Friedrich Schiller auch in Deutschland geschätzten Schweizer Helden und Freiheitskämpfers. 

Die »Goldenen Zwanziger«
Die beginnenden Zwanzigerjahre sind aber nicht bloß Jahre des Elends und der politischen Konflikte, sondern zugleich eine Zeit der Vergnügungssucht, mit einer wachsenden Sportbegeisterung und einer intensiven Kulturproduktion auf allen Ebenen. Die Konzerthäuser, Theater und Kinos florieren; vor allem in Berlin pulsiert das Nachtleben – in Cafés, Weinstuben, Tanzlokalen und im riesigen Sportpalast, wo Eishockey-Spiele, Hallenreitturniere, Sechstagerennen des Radsports und aufsehenerregende Boxkämpfe stattfinden.
Wer kann, blickt nun auch wieder über nationale Grenzen hinaus und sucht mediterranes Flair, so genießt etwa George Grosz den Trubel der Bars in Südfrankreich. Und wer mag, engagiert sich in örtlichen Gemeinschaften, zum Beispiel in dem bereits am 15. Januar gegründeten Förderverein der Hamburger Kunsthalle. In den Großstädten kann man in aufwendig inszenierten Revuen nackte Tänzerinnen erleben, während im Kabarett Literarisches dargeboten wird. Im Dezember 1922 wurde im Deutschen Theater Berlin der junge Autor Bertolt Brecht für seine Legende vom toten Soldaten noch ausgepfiffen, nun gibt am Kurfürstendamm eine unbekannte Schauspielerin unter dem Künstlernamen Marlene Dietrich ihre Lieder zum Besten. Auch die düsteren, expressiven Stummfilme erfreuen sich weiter großer Beliebtheit: Im Vorjahr versetzte Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu, eine Symphonie des Grauens das Kinopublikum noch in Schrecken, jetzt dreht der Österreicher Karl Grune schon an seinem expressionistischen Film Die Straße, in dem ein Kleinbürger von den Verlockungen und Abgründen der Großstadt mitgerissen und beinahe verschlungen wird.

Bilder der Zeit
Am Staatlichen Bauhaus in Weimar steckt man derweil in den Vorbereitungen zur ersten eigenen Ausstellung, die am 15. August eröffnen soll. Das vom Architekten Walter Gropius 1919 gegründete Bauhaus entwickelt sich rasch zur wichtigsten Schule für die freien und angewandten Künste, für Architektur, bildende Kunst und Design, sowie zu dem Ort für eine internationale Avantgarde. 1923 kommt der ungarische Konstruktivist László Moholy-Nagy ans Bauhaus und veröffentlicht in der Meistermappe die Farblithographie Komposition mit senkrechten schwarzen Balken, mit der er eine moderne, reduzierte Ästhetik behauptet. Sein Kollege, der Dramaturg Lothar Schreyer, leitet die Bühnenklasse und entwirft abstrakte Bühnenbilder und Kostüme, wie etwa Marionette IV. Auch der Russe Wassily Kandinsky ist am Bauhaus tätig und gestaltet dort unter anderem das Bild Weißer Punkt (Komposition 248) als eine Art Sphärenharmonie.
Zur gleichen Zeit porträtiert Corinth seine Tochter Wilhelmine im Stil des Spätimpressionismus als blumenumtoste Flora, lässt der in die Schweiz emigrierte Ernst Ludwig Kirchner sein Davoser Wohnzimmer in kräftigen Farben leuchten und sucht Anita Rée ihre visuellen Paradiese im Süden Italiens. Der Bildhauer Rudolf Belling erfasst in Skulptur 23 einen menschlichen Kopf als technoides, roboterartiges Gebilde, der französische Dichter Robert Desnos imaginiert mit surrealistischem Formenrepertoire La mort de Max Ernst, und der Maler Walter Dexel feiert mit dem Hinterglasbild Figuration aus Senkrechten XII die Statik des Konstruktivismus – während in Ludwig Meidners prophetisch-nervösem Selbstbildnis sinnbildlich schon wieder das Haus brennt.

Krise und Aufbruch
Aus historischer, politisch-sozialer Sicht gilt das Jahr 1923 heute als »Krisenjahr«, in der Kunst zeigt es sich erstaunlich fruchtbar und so vielfältig wie ambivalent. Mit rund 60 Gemälden, Arbeiten auf Papier, Skulpturen und Plastiken von 40 Künstlerinnen und Künstlern macht die Ausstellung 1923: Gesichter einer Zeit diesen Reichtum an Facetten erfahrbar. Um das Gründungsjahr der Freunde der Kunsthalle entstanden, geben die ausgewählten Werke beispielhaft Einblick in das künstlerische Schaffen, die politischen Umstände und gesellschaftlichen Vorgänge dieser Zeit in Deutschland und Hamburg – und lassen ein Jahr der Potenziale, der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten wiederaufleben.


TEXT: JULIANE AU und KARIN SCHICK

JULIANE AU ist Wissenschaftliche Volontärin an der Hamburger Kunsthalle, KARIN SCHICK leitet die Sammlung Klassische Moderne. Beide haben die Ausstellung gemeinsam mit ANDREAS STOLZENBURG, Leiter des Kupferstichkabinetts, kuratiert.