Vija Celmins, Untitled (Ocean), 2014, 39 x 47 cm, Jack Shear Collection, © Vija Celmins, Foto: Ron Amstutz, Courtesy Matthew Marks Gallery
Vija Celmins, German Plane, 1966, Collection of the Modern Art Museum of Fort Worth, Museum purchase, Sid W. Richardson Foundation Endwoment Fund, © Vija Celmins, Foto: Courtesy the Modern Art Museum of Fort Worth
Gerhard Richter, Schärzler, 1964, Öl auf Leinwand, 100 x 130 cm, Privatbesitz, Cat. Rais. 17, © Gerhard Richter 2022 (0195)
Vija Celmins, Hot Plate, 1964, Öl auf Leinwand, 63,5 x 88,9 cm, Collection of Renee and David McKee, © Vija Celmins, Image courtesy McKee Gallery
Gerhard Richter, Küchenstuhl, 1965, Öl auf Leinwand 100 x 80 cm, Kunsthalle Recklinghausen, Cat. Rais. 97, © Gerhard Richter 2022 (0152)
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Sehstück

Der Philosoph Karl Jaspers hat das Meer als die »anschauliche Gegenwart des Unendlichen« beschrieben. Unendlich erscheinen die Wellen, unerschöpflich ihre Bewegung. Diese Grenzenlosigkeit künstlerisch festzuhalten und auf die zweidimensionale Fläche einer Leinwand oder eines Zeichenpapiers zu übertragen, ist eine schwierige Aufgabe. Vija Celmins (geb. 1938) und Gerhard Richter (geb. 1932) haben sich dieser Herausforderung gestellt. Der deutsche Künstler Gerhard Richter gilt als europäische Ikone, doch die Werke der in Riga geborenen und in den USA lebenden Künstlerin Vija Celmins sind außerhalb der USA noch kaum bekannt. Das soll sich mit der großen Doppelschau in der Hamburger Kunsthalle ändern. Dabei sind es nicht zuletzt Celmins’ detailreiche Darstellungen der Meeresoberfläche, mit denen sie in den USA berühmt geworden ist. Weder Horizont noch Ufer sind auf ihren kleinformatigen Zeichnungen und Gemälden zu erkennen. Die gleichmäßige Struktur der Wellen füllt die gesamte Bildfläche aus, so als gäbe es weder Anfang noch Ende in der unendlichen Bewegung des Meeres. Als Grundlage für diese Meeresbilder dienen der Künstlerin oftmals eigene Fotografien des Ozeans. Den Rückbezug auf eine fotografische Vorlage beschreibt Celmins als Mittel der psychischen Distanzierung von ihrer Motivwelt, das es ihr erlaubt, sich ganz auf den Prozess des Malens oder Zeichnens zu konzentrieren.

Distanz und Unschärfe
Bereits während ihrer Studienzeit begann Celmins ihren Blick zu schulen und sich Objekten aus ihrem Atelier in Los Angeles zu widmen. Diese alltäglichen Gegenstände – eine Lampe, ein Heizstrahler oder eine Kochplatte – übertrug die Künstlerin mit erstaunlicher Intensität und Direktheit auf die Leinwand. Während sich Celmins’ reifes Œuvre durch eine starke Reduktion der Farbpalette auszeichnet, bestechen ihre frühen Werke durch den gezielten Einsatz von Farbe. So heben sich auf dem Gemälde Hot Plate von 1964 die Heizstäbe der kleinen elektrischen Kochplatte in leuchtenden Rot- und Orangetönen vor dem graubraunen Hintergrund ab. Obwohl es sich um persönliche Gegenstände der Künstlerin handelt, wirkt Celmins’ Malweise distanziert. Fast scheint von den dargestellten Objekten eine stille Zeugenschaft auszugehen, die unser Verhältnis zu Wirklichkeit, Wahrnehmung und Erinnerung befragt.
Auch Gerhard Richter hat zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn in Westdeutschland Alltagsgegenstände gemalt. Allerdings beruhen seine Gemälde auf fotografischen Vorlagen, die er aus Zeitungen und Illustrierten entnahm oder selber schoss. Das Gemälde Küchenstuhl (1965) entstand beispielsweise nach einer Aufnahme des Künstlers. Im Gegensatz zu Celmins’ präzisen Stillleben hat Richter seine Darstellung verwischt. Dieser Kunstgriff verwandelt die fotografierten Gegenstände in malerische Motive, während sich die Unschärfe inhaltlich gesehen wie eine Folie zwischen das Objekt und dessen Erleben legt. Genau wie Celmins interessiert Richter das Verhältnis von Abbild und (gelebter oder erinnerter) Realität. Was dabei in seinen Bildern zum Ausdruck kommt, ist das eigene, von Unsicherheit geprägte Verhältnis zur Wirklichkeit und dessen Aufarbeitung im Prozess des Malens. 

Übermalte Traumata

Die grundlegende Skepsis gegenüber dem Aussagewert von Bildern wird auch deutlich, wenn man sich Celmins’ und Richters künstlerischen Auseinandersetzungen mit der eigenen Kriegsvergangenheit in Riga (Celmins) und Dresden (Richter) zuwendet. In den 1960er-Jahren begann Celmins, auf der Suche nach der eigenen Geschichte Buchhandlungen und Bibliotheken nach alten Fotos aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu durchstöbern, um sie als Bildvorlagen zu nutzen. Eines der daraus entstandenen Gemälde trägt den Titel German Plane (1966). Zu sehen ist ein Kampfflugzeug der deutschen Wehrmacht. Schnauze und Heck der Maschine sind durch den Bildrand abgeschnitten, der Hintergrund ist in diffusen Grautönen gestaltet.
Auch Gerhard Richters Gemälde Schärzler (1964) basiert auf einer Fotovorlage. Sie stammt aus einer Tageszeitung. Die Einfassung des Fotos durch das angedeutete Layout der Zeitungsseite ist scharf umrissen. Die Konturen des Kampfflugzeugs hingegen wurden vom Künstler verwischt. Die graue Tonalität beider Gemälde ist den schwarz-weißen Fotovorlagen geschuldet. Sie scheint die Dramatik der Motive in einen überzeitlichen Schwebezustand zu versetzen, so als könne man zwischen Vergangenheit und Gegenwart keine Grenze ziehen. Die Kriegsbilder von Celmins und Richter scheinen diese paradoxe Durchkreuzung der gängigen Zeit-Ordnung zu verbildlichen. Zwar ist der Bildinhalt objektiv erkennbar, die subjektive Bedeutung der da hinterliegenden traumatischen Erlebnisse bleibt hingegen uneinholbar. Um sich an sie heranzutasten, bedarf es der Übermalung.

Täuschend echt
Neben der motivischen Nähe ist es gerade dieser selbstreflexive Aspekt des Sehens, der das Werk der beiden Künstler*innen eng verbindet. So wundert es wenig, dass sich sowohl Celmins als auch Richter ganz bewusst mit den eigenen künstlerischen Materialien auseinandergesetzt haben. In der Zeit zwischen 1965 und 1966 malte Richter mehrere kleinformatige Gemälde mit dem Titel Umgeschlagenes Blatt. Auf jedem Bild sind zwei übereinanderliegende Papierblätter dargestellt. Dabei ist die rechte untere Ecke des oberen Blattes nach links umgeschlagen und wirft einen Schatten auf das darunterliegende Papier. So entsteht der Anschein, als würde sich das Blatt in den Betrachterraum hineinwölben – eine optische Täuschung.
Auch Celmins bedient sich dieser künstlerischen Strategie des Trompe-l’Œils. Ihr Pink Pearl Eraser (1967) zeigt die illusionistische Nachbildung eines rosa Radiergummis. Die aus Balsaholz hergestellte und mit Acrylfarbe bemalte Skulptur wirkt täuschend echt, nur die Größe verwundert, ist der vermeintliche Radiergummi mit seinen über 53 Zentimetern Breite doch viel größer als sein reales Pendant. Dieses beständige Spiel mit den Kategorien Realismus und Wahrheit stellt das Publikum immer wieder vor die Frage: Können wir unseren Augen trauen?

TEXT: JOHANNA HORNAUER

JOHANNA HORNAUER ist Wissenschaftliche Volontärin an der Hamburger Kunsthalle und Ausstellungsassistentin.