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Gedankenbilder

Es freut uns sehr, dass unser Juror Sie ausgewählt hat. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von Ihrer Nominierung gehört haben?
»Wie viel?« Nein, Scherz beiseite, ich konnte es anfangs nicht glauben. Als ich den Anruf erhielt, saß ich im Bus und dachte, der Empfang sei schlecht und ich hätte mich verhört. Dann habe ich mich sehr gefreut und war stolz.

Die aktuelle Situation der Museen und das Zusammenspiel zwischen Künstlern und Kulturinstitutionen bewerten Sie kritisch. Der Rosa-Schapire-Kunstpreis wird nun als erster Kunstpreis vom Förderverein eines großen Museums vergeben. Sollte es mehr Preise wie diesen geben?
Ich stehe allen Dingen kritisch gegenüber, auch mir selbst – allerdings immer mit Vorsicht und Humor. In der Tat wäre es gut, wenn es mehr solcher Freundeskreis-Preise geben würde. Es sollte insgesamt mehr Stipendien, mehr Möglichkeiten, mehr hochqualitative Ausstellungen geben – und mehr ernsthafte und einfallsreiche Museen. Jedes »mehr« ist gut, wenn es vernünftige und intelligente Dinge hervorbringt und wenn es um wichtige Themen und nicht um marktorientierte Trends geht. Einen Preis zu erhalten, ist großartig, vor allem wenn Kasper König derjenige ist, der dich mit dieser guten Nachricht überrascht. Die Auszeichnung bedeutet Anerkennung für mich und mein Publikum.

Sie sind in Sibiu, Rumänien, geboren, leben heute in Bukarest und gelten, neben Geta Bratescu, als international bekanntester lebender Künstler Ihres Landes. Daneben sind Sie Journalist, arbeiten unter anderem für die in Rumänien bekannte politische Zeitung revista 22, das Kunstmagazin art und haben mit der Dan Perjovschi Newspaper selbst regelmäßig eine Publikation heraus gegeben. – Wo sehen Sie die Verbindung zwischen Ihrer Arbeit als Journalist und als Künstler?
Ich lebe zurzeit in Bukarest und in Sibiu. Wir sind in meine Heimatstadt zurückgekehrt, weil sie eine hübsche mittelalterliche Stadt ist und eine bessere Lebensqualität bietet. Und weil sie in Transsylvanien liegt. – Da weiß jeder, wo das liegt, nicht wahr? Im Dracula-Land …
Aber im Ernst, ich bin Journalist und gleichzeitig Künstler. Meine Projekte ähneln Presseberichten: Ich bin Chefredakteur, Geschäftsführer und Poststellenlaufbursche in einem. Meine Beziehung zu Printmedien besteht seit vielen Jahren. Ich halte sie für ein phantastisches Medium. Für meine Kunst sind Zeitschriften und Zeitungen das perfekte Instrument – und auch für eine gewisse Geisteshaltung. Seit 1990 zeichne ich für die rumänische Öffentlichkeit. Jede Woche, seit 27 Jahren. Inzwischen bin ich an jedem Zeitungskiosk zu finden.
Es gibt einige rumänische Künstler – manche leben auch noch dort –, die auf dem internationalen Parkett aktiv sind, und ich freue mich, dazuzugehören. Es ist ein wunderbarer Zufall, dass ich diesen Preis ausgerechnet von den Unterstützern des Museums erhalte, in dem Geta Bratescu gerade ihre erste umfangreiche Retrospektive hatte. Geta ist eine großartige Künstlerin und ein wichtiges Vorbild. Darüber hinaus haben meine Frau Lia und ich zwanzig Jahre lang in Getas ehemaligem Atelier in Bukarest gelebt und gearbeitet. Und um das Ganze auf die Spitze zu treiben, haben wir dort 1990 auch das CAA/CAA (Contemporary Art Archive and Center for Art Analysis) gegründet, eine Plattform für Diskurs, Debatten und Austausch über zeitgenössische Kunst. Das kann doch kein Zufall sein!

Möchten Sie uns mehr zum Contemporary Art Archive and Center for Art Analysis erzählen?
Das CAA/CAA war eher die Idee und ein Projekt von Lia. Ich habe sie nur unterstützt und die PR-Arbeit gemacht. Lange Zeit war das Ziel ihres Projekts, alle Informationen zusammenzutragen, die wir weltweit in den von uns besuchten Ländern gesammelt haben. In Rumänien waren teure Kunstkataloge für fast alle öffentlichen Bibliotheken oder Kunstschulen unerschwinglich, aber durch unsere Teilnahme an den Ausstellungen mit eben diesen Katalogen erhielten wir sie umsonst. Im Laufe der Jahre konnten wir so einen riesigen Haufen Informationen – Bücher, Kataloge, Texthefte – über Kunstrichtungen sammeln, die uns bis dahin völlig unbekannt waren.
Als wir an der Kunsthochschule studierten, reichte die Kunstgeschichte gerade noch bis Picasso. Wir wurden akademisch ausgebildet, und bis heute sind die meisten Kunstschulen und Kunstmuseen im Land sehr konservativ ausgerichtet. Also »sammelten« wir die Kunst, die wir in Rumänien nicht hatten.Wir konnten keinen echten Matthew Barney ausstellen, aber wir konnten eine Abbildung von Matthew Barney zeigen. Lia hat schließlich Struktur und Ordnung in diese riesige Materialsammlung gebracht, und wir haben diese Informationen über 15 Jahre verbreitet. Unser Atelier, in dem das CAA eingerichtet war, wurde eine Begegnungs- und Austauschstätte für ganze Künstlergenerationen.
Nachdem wir unser Kunstwissen geteilt und verbreitet hatten, wurden wir allmählich kritischer und bezogen klare Haltungen in der Öffentlichkeit. Das »Archiv« wurde auch zum »Zentrum für Analyse«. Wir sahen es als unsere Verantwortung an, aktiv und kritisch zu sein. Der Künstler ist auch Bürger.

In den letzten Jahren wurden Sie wiederholt von renommierten Institutionen, Galerien oder auf Biennalen eingeladen, um vor Ort zu zeichnen. Ihnen wird eine Wand, ein Fußboden oder eine Außenfläche angeboten, und Sie füllen diese mit Ihren Zeichnungen. Oft dauert Ihre Arbeit mehrere Tage, wird vom vorbeikommenden Publikum beobachtet und kommentiert und zum Ausstellungsende von Ihnen, der Institution oder dem Publikum wegradiert oder überstrichen. Das erinnert durchaus an Performance-Kunst. Würden Sie sich selbst als einen Performance-Künstler bezeichnen?
Meine künstlerische Arbeit hat tatsächlich performative Elemente. Ich begegne den Wänden, auf die ich zeichne, mit viel Kraft und Tempo. Meine Arbeit ist ein Prozess ständiger Aufnahme, Verarbeitung, Selbstreflexion und Neu-Durchdenkens. Aber erst die letzte Phase, in der die Zuschauer meine Arbeit verfolgenkönnen, wird zur Performance. Die Vorbereitungen und Recherchen, die vielen Stunden, während derer ich beobachte und zeichne, Zeichnungen wiederhole und überzeichne, sind ein langer, andauernder, privater Teil meines Schaffens, bei dem es kein Publikum gibt. Meine Zeichnungen sind nicht spontan. Sie sind lange vorbereitet und erprobt. Ich mache mir ständig Notizen. Von etwa 200  Zeichnungen kommen am Ende vielleicht zwanzig an die Wand. Sie wirken leicht und mühelos, sind aber das Ergebnis eines langen, ebenso mühsamen wie schönen Entste
hungsprozesses – nur um am Ende ein einziges Bild entwickelt zu haben, das in der Lage ist, eine komplexe politische, gesellschaftliche oder kulturelle Situation zusammenfassend darzustellen.
Jede Wand, auf die ich zeichne, sehe ich als Vorbereitung auf die nächste. Für jedes Projekt brauche ich mindestens eine Woche Vorarbeit – also, eigentlich eine Woche plus die letzten 27 Jahre.

Sie haben einmal über Ihre künstlerische Arbeit gesagt: »It’s just my marker and me travelling. I come, I draw and I go.« – So einfach ist es offenbar doch nicht.
Nein, so einfach ist es nicht. Allerdings arbeite ich immer mit Freibrief. Ich werde stets eingeladen, das zu zeichnen, was ich will. Es gibt keine Vorgaben und keinen Plan. Der Kurator weiß nicht, was ich zeichnen werde, und ich weiß es ebenfalls nicht. Es weiß auch niemand im Vorfeld, was ich auf die Wände der Hamburger Kunsthalle zeichnen werde. Man hat mir immer diese Wildcard, diesen Freibrief, gegeben – aber auch die Verantwortung, die damit einhergeht. Freiheit hat in meinem Fall einen Preis, sie ist mit einem begrenzten Zeitfenster versehen.
Manchmal bleiben meine Projekte allerdings durchaus ein paar Jahre ausgestellt. Doch wie ich eben sagte, auch wenn meine Wandzeichnungen spontan aussehen, sind sie doch das Ergebnis eines intensiven, arbeitsaufwendigen Entstehungsprozesses. Mit der Vorarbeit für die Hamburger Kunsthalle habe ich zum Beispiel direkt begonnen, nachdem ich den Anruf erhalten hatte.

Welchen Einfluss und welche Bedeutung hat das Publikum für Sie?
Wenn ich mit dem Publikum im Rücken zeichne, fühle ich mich manipuliert. Ich lerne noch, damit umzugehen. Leider ist es unmöglich, unbeobachtet im Foyer eines Museums zu arbeiten, wo ständiger Publikumsverkehr herrscht. Inzwischen habe ich aber begonnen, mich mit den Menschen zu unterhalten, Eindrücke zu sammeln, und verstehe dann besser, wie die Leute mich sehen. Ich begreife dann auch eher, was von mir erwartet wird und womit das Publikum vertraut ist. Aber heutzutage ist der Begriff »Publikum« sowieso mehrdeutig. Ich habe ein professionelles Publikum und eines auf Facebook, es gibt zufälliges Publikum, Stammpublikum, kulturell gebildetes, idiotisches, aufgeschlossenes und vollkommen undurchschaubares Publikum. Die Begegnung mit den Leuten gibt mir aber die Möglichkeit, meine Kunst auch mal von außen zu betrachten.
Ehrlich gesagt mag ich es trotzdem noch immer nicht besonders, vor Publikum zu zeichnen. Es fühlt sich zu sehr wie eine Show an. Die Leute sehen dann eher den Vorgang als die Idee dahinter. Für mich ist aber die Idee der wichtigste Aspekt meiner Arbeit. – Ich sehe meine Zeichnungen als Gedankenbilder.

Macht es Ihnen nichts aus, dass viele Ihrer Zeichnungen nur von kurzer Dauer sind?
Vergänglichkeit gefällt mir. Nicht-permanente Kunst konfrontiert ihre Betrachter immer mit den Fragen: Was ist Kunst? Wie messen, wie bewerten, wie vermitteln wir Kunst? Warum bewahren wir sie auf, und wie schauen wir sie an? Und in meinem Fall: Wie kommt es, dass Museen, die eigentlich mit der Konservierung von Kunst beauftragt sind, plötzlich entscheiden, Kunst zu übermalen? Was ist eigentlich der Auftrag eines Museums für zeitgenössische Kunst?

Was bleibt, sind oft »nur« die Zeichnungen in Ihren Notizbüchern. Welche Bedeutung haben diese für Sie?
Alle Zeichnungen, die ich jemals angefertigt habe, sind in meinen Notizbüchern aufbewahrt. Ich fülle mindestens ein Notizbuch für jedes einzelne Projekt. Die Bücher sind wie ein Atelier im Taschenformat. Oft werden sie von den gastgebenden Institutionen aufbewahrt und bleiben nach Ende des Spektakels – der Ausstellung – zusammen mit den Daten zur Ausstellung in der Sammlung der jeweiligen Einrichtung. In meinem eigenen Archiv besitze ich inzwischen über 100 Notizbücher.
Notizbücher sind heute zu einem eigenen Medium geworden. Wie Malerei oder Videokunst. Sie sind mein Medium. Sie bilden eine riesengroße Datenbank, in der sich unsere Welt von 2001 bis heute spiegelt. Für mich sind sie eines meiner wichtigsten Projekte.

Sie haben eine klassische Ausbildung zum Maler absolviert, sich dann aber vollständig der Zeichnung als künstlerischem Mittel gewidmet. Was fasziniert Sie an diesem Medium?
Geschwindigkeit, Freiheit, Wandelbarkeit. – Genau diese Eigenschaften finden Sie auch in meinen Zeichnungen.

Einige Ihrer Bilder tauchen in Teilen oder als ganzes Motiv immer wieder in Ihren Arbeiten auf. Warum? Gibt es eine Zeichnung, die Sie besonders lange begleitet?
Wenn die Situation es erfordert und ich über ein Thema bereits einen guten »Kommentar« abgeliefert habe, werde ich diesen sicher wiederholen – sofern ich mich noch daran erinnern kann. Es ist wie bei einer Band, die neue Songs spielen möchte, aber das Publikum will nur ihre Hits hören. Ich spiele meine »Hits« ebenfalls immer und immer wieder. Oder anders gesagt: Bei jedem meiner Projekte stammt die eine Hälfte der Zeichnungen von früheren Wänden, und die andere Hälfte ist neu. Ich zeichne das »Best of« meiner Motive immer wieder. – Möglicherweise stammt die Zeichnung, die du gerade anschaust, also bereits aus dem Jahr 1992. So halte ich sie lebendig.

Es gelingt Ihnen auf grandiose Weise, komplexe Gedanken einfach darzustellen – mit minimalen Mitteln, sowohl in der technischen Umsetzung mit dem Stift als auch in der reduzierten Darstellung mit Symbolen oder als Piktogramme. Gelegentlich nutzen Sie zusätzlich englische Kommentare. Aber selbst wenn Ihre Arbeiten ohne Worte auskommen, werden sie international verstanden. Was und wen möchten Sie mit Ihrer Kunst erreichen?
Jeden. In den letzten Jahren hat das Wort in meinen Zeichnungen immer mehr an Bedeutung gewonnen. Für mich sind Texte und Bilder das Gleiche. Ich liebe Sprache und nutze Worte und Wortspiele in jeder Sprache, die ich kenne und die mir vertraut ist. Für meine Arbeit verwende ich ein reduziertes und minimiertes Vokabular aus Zeichen und Buchstaben, um einen größtmöglichen Zugang zu schaffen. Dieser ist aber nur scheinbar leicht. Je einfacher ein Bild erscheint, desto tiefsinniger ist es oft. Man kann meine Zeichnungen als Karikatur oder philosophisches Statement betrachten. Meine »Sprache« sieht zunächst leicht zugänglich aus, man muss aber ein Mindestmaß an Wissen über die politische Realität und die gesellschaftlichen wie kulturellen Auseinandersetzungen mitbringen, wenn man die ganze Bedeutung der Zeichnung erkennen möchte. Ich kritzele nicht einfach nur herum. Ich zeichne.

Viele Ereignisse, die Sie kommentieren, machen betroffen, traurig oder sogar wütend und erzeugen den Wunsch, etwas an der Situation zu ändern. Sehen Sie Ihre Kunst als Form  politischen und gesellschaftlichen Handelns?
Ja. Ich sehe mich als Kommentator mit der Fähigkeit, bestimmte Dinge zu visualisieren, die viele Leute denken, aber nicht ausdrücken können. Vor meinen Bildern erkennen sie aber, dass sie die Idee dahinter bereits gedacht haben. Einen abstrakten Gedanken in ein visuelles Gebilde zu übersetzen, ist ein komplizierter Prozess. Nicht jeder ist damit vertraut. Ich habe inzwischen fast 30 Jahre Erfahrung darin. Ich versuche, eine Situation zu verstehen, indem ich sie zeichne, und den Leuten etwas zu vermitteln. Für mich bietet das Zeichnen gleichzeitig eine Form der Erforschung und der Erkenntnis. In den letzten Jahren bin ich daher eine Art Zeichnungslieferant für die verschiedensten aktivistischen oder karitativen Projekte geworden. Mir liegt diese Übersetzung nun mal – ein Bild anstelle von vier Seiten Text.
Für jede meiner Wandzeichnungen, die irgendwo in der Welt übermalt wird, tauchen zwei weitere an irgendeinem anderen Ort auf. Ernsthaft: Ich glaube, seit 2002/2003 war zu jeder Zeit irgendeine Zeichnung von mir an irgendeiner Wand auf diesem Planeten zu sehen.

Gibt es Themen, mit denen Sie vorsichtiger agieren als mit anderen? Hatten Sie schon einmal Ärger aufgrund einer Arbeit, die falsch verstanden wurde? Welche Themen liegen Ihnen besonders am Herzen?
Die russisch-orthodoxe Kirche ist eine Tabuzone. Aber jeder Bereich besitzt sensible Themen. Meine Kunst gehört zur Demokratie. Wo die Demokratie unter Druck gerät, gerät auch  eine Kunst unter Druck – siehe Türkei. Ich zeichne nicht, um Leute zu entzweien oder Skandale zu provozieren. Ich bin nicht Charlie Hebdo. Ich bin Charlie und Ahmed. Ich zeichne mit Empathie, um Verständnis zu schaffen. Es gibt so viele Missverständnisse und Vorurteile. Natürlich werden einige meiner Zeichnungen nicht richtig verstanden oder völlig falsch von  oberflächlichen oder ideologisch gesteuerten Leuten interpretiert. Aber es ist nie meine Absicht, Skandale anzufachen. Ich stelle meine Zeichnungen stets an den Rand einer Klippe, wo sie zwischen ihren Bedeutungen balancieren können. Wie gesagt, auf den ersten Blick sehen sie einfach aus, aber auf den zweiten … Zum Beispiel: Im Wort »crisis« ist auch das Wort »ISIS« enthalten. Das war von Anfang an da. Interessant oder? Aber »ISIS« findet sich nur im englischen Wort. – Auch das ist interessant!
Letztlich sind mir alle Themen wichtig. Und ich schätze es besonders, wenn einfache Leute sich mit unserer komplexen und neoliberalen Gesellschaft auseinandersetzen.

Ihre Arbeiten zeigen viel Humor. Wie wichtig ist dieser für Sie?
Humor ist das Herz meiner Arbeit. Mein Humor hat mir geholfen, die Diktatur durchzustehen. Und nun hilft er mir, durch den Kapitalismus zu kommen.

Ihre Zeichnungen werden oft mit Graffiti, Karikaturen oder Comics verglichen. Wo sehen Sie Unterschiede? Gibt es Gemeinsamkeiten?
Meine Zeichnungen sind all das und gleichzeitig nichts davon. Ich bin in einem Land aufgewachsen, wo es keine Comic-Kultur gab, wo Graffiti in der Öffentlichkeit verboten waren und wo keine Underground-Szene existierte. Ich ahnte damals nicht mal, dass es so etwas wie Comics überhaupt gibt. Karikaturen waren auf Küche und Sport begrenzt. Natürlich gab es Künstler, die die Grenzen der Zensur ausloteten, und es gab auch »liberalere«, entspanntere politische Zeiten. Aber insgesamt wuchs ich in einer Kultur der Kontrolle und Überwachung auf, wo so etwas wie freie Meinungsäußerung einfach nicht möglich war. Damals gab es kein Internet. Ich konnte nicht reisen. Es kamen keine Bücher ins Land. Graffiti und Comics bin ich daher erst viel später begegnet, erst nachdem ich 30 Jahre alt war. Bis dahin hatte ich mir meine visuelle Sprache bereits im Wesentlichen angeeignet. Ich habe sie dann aber etwas verändert und erweitert, die Freiheit von Graffiti und den Humor aus Comics einfließen lassen. – Und auch mich selbst habe ich etwas »entbildet« und bewusst meine anerzogene »Linie« und die eingeübten Kompositionsregeln dekonstruiert und zerstört. Ich machte auf Art brut und auf »Kids lehnen Regeln ab«. Ich eignete mir die Sprache der Freiheit an.
Wie eine alte Dame in Sydney einmal meinte, als sie mir beim Zeichnen an der Fassade der National Gallery zusah: »Endlich intelligente Graffiti.«


INTERVIEW: MARIANNE MÖHRING

MARIANNE MÖHRING studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Klassische Archäologie in Hamburg, Promotion über die Hamburger Künstlerin Ebba Tesdorpf. Seit 2008 verschiedene Forschungs-, Digitalisierungs- und Ausstellungsprojekte am Museum für Hamburgische Geschichte; daneben als freie Kunsthistorikerin und Dokumentarin für die Zeitschrift GEO EPOCHE EDITION tätig.