Jottas Welt
»Come in and look around.« Mit diesen Worten öffnet Ana Jotta lachend die Tür zu ihrer Wohnung im Lissabonner Altstadtviertel. Und schon sind wir mittendrin in ihrer phantastischen Welt, die einer Kunst- und Wunderkammer gleicht. Bevor die Gäste aus Hamburg jedoch in diese eintauchen dürfen, gibt es erst einmal einen starken portugiesischen Kaffee. Im Gespräch merkt man ihr dann immer wieder die große Freude über unseren Besuch und über die Auszeichnung mit dem Rosa-Schapire-Preis 2017 an. Vollkommen unerwartet sei diese Nachricht aus Hamburg gekommen, und sie könne es immer noch nicht glauben. Penelope Curtis, Jurorin und seit 2015 Direktorin des angesehenen Museu Calouste Gulbenkian in Lissabon, hatte nicht lange überlegen müssen, als sie die portugiesische Künstlerin vorschlug, die in den letzten Jahren durch zahlreiche Ausstellungen international bekannt geworden ist. Die zunehmende Popularität scheint Ana Jotta jedoch kaum zu beeindrucken. Immer hat sie ausschließlich das gemacht, was sie interessiert, und sich dabei nicht vom Kunstmarkt beeinflussen lassen. Diese Unabhängigkeit ist ihr bis heute wichtig. 1946 in Lissabon geboren, hat Ana Jotta nach dem Studium in Lissabon und Brüssel an der École Nationale Supérieure des Arts Visuels zunächst am Theater und Kino gearbeitet, bevor sie sich vollkommen der bildenden Kunst zuwandte. Seit über vierzig Jahren ist sie als Malerin, Bildhauerin, Zeichnerin und Photographin tätig, wobei sie sich kaum auf ein Medium festlegen lässt. Immer wieder hat sie neue Techniken erforscht, mit Stoffen, Stickerei, Ton oder Keramik gearbeitet und sich durch gefundene Objekte und Dinge zu ihren Assemblagen, Collagen oder Installationen inspirieren lassen.
Vor allem anderen ist Ana Jotta jedoch Sammlerin. Und ihre Wohnung ist ihr Universum, eine Symbiose aus Kunst und Leben. Hier sammelt und archiviert sie alles, was sie interessiert und was früher oder später für ihre Arbeit wichtig sein könnte. Gleich im Flur stolpert man über alte Radkappen, die neben einer Kindertrommel aufgebaut sind. Form und Gestalt dieser so unterschiedlichen Dinge scheinen sich bestens zu ergänzen. Schon hier wird deutlich, dass gefundene Objekte, Relikte aus der Vergangenheit oder alltägliche Dinge die wesentlichen Requisiten für das heterogene Werk von Ana Jotta sind. In der Küche hängen selbst entworfene Uhren, auf dem Arbeitstisch liegen dicht an dicht Photos der Familie, verschiedene Fundstücke wie Plastikspielzeug, kleine Skulpturen, Zitate oder Ausstellungseinladungen. Voller Elan führt uns Ana Jotta durch die einzelnen Räume ihrer Wohnung, und gemeinsam steigen wir die schmale Treppe zum Dachboden hinauf: Auch hier wie in allen drei Stockwerken des kleinen Apartments Bücher, Archivmaterial, alte Lampen mit bemalten Schirmen, ein roter Punchingball neben alten Graphiken, und dahinter auf einem Stühlchen ein erschreckend lebendig aussehender Stoffaffe. Sofort denkt man an Hanne Darboven und ihr bis unter die Decke mit Gegenständen und Relikten gefülltes Atelierhaus. Doch bei Ana Jotta scheinen die Dinge neue Bezüge und Ikonographien zu entwickeln. Und mittendrin in dieser Kunst- und Wunderkammer findet man immer wieder das »J«: Objekte, die in unterschiedlichsten Formen und Materialien dem Anfangsbuchstaben ihres Nachnamens ähneln. Seit jeher hat die Künstlerin Objekte gesammelt oder gestaltet, die die gebogene Form des »J« aufweisen, wie etwa ein Spazierstock oder ein geschwungenes Metallstück. Einem Markenzeichen vergleichbar hat sie diese in den sogenannten zu Werk-Jottasgruppen zusammengefügt. 2005 hat das Museu Serralves in Porto diese Arbeiten zusammen mit ihren Gemälden, Zeichnungen, Stickereien und Installationen unter dem Titel Rua Ana Jotta (»Ana Jottas Straße«) erstmals umfassend präsentiert.
Die Fragen nach Bezügen und Brüchen im Leben und in der Geschichte treiben Anna Jotta an. Indem sie überlieferte Texte oder gebrauchte Materialien aufgreift, rekonstruiert oder mit viel Witz auseinandernimmt, stellt sie Ideologien und Strukturen infrage. In ihren Footnotes hat sie das über Jahre gesammelte Material von Zeitungsartikeln, Werbebildern, Comics, Zeichnungen, Collagen und Skizzen zu einem großartigen Künstlerbuch zusammengefasst. Es sind vor allem die Widerstände und Widersprüchlichkeiten der Formen oder Dinge, die sie herausfordern. Dabei geht es ihr auch um das Thema der Auslöschung von Spuren – bis hin zur Tilgung des eigenen Werks, denn sie versteht sich und ihre Arbeit ebenfalls nur als »Fußnote« der Geschichte. So hat sie Werkgruppen immer wieder abrupt beendet, um sich neuen Themen und Materialien zuzuwenden. Zeit spielt für sie keine Rolle, ihre Ideen und Motive entwickeln sich aus dem jeweiligen Werkprozess: »Ich überlege nicht, ich warte – und wenn der Autobus kommt, steige ich ein«, umschreibt sie ihre Arbeitsweise. Fasziniert vom Kino, hat Ana Jotta eine Serie von Screens geschaffen: Dia-Leinwände, auf denen sie ihre Zeichnungen, Gemälde oder Zitate aus Filmen gesetzt hat. »Screens«, sagt sie, »sind wie Leinwände. Screens talk to me.« Manchmal würde sie nur ins Kino gehen, um die Leinwand im dunklen Raum zu erleben. Am Ende des Besuchs lädt sie uns noch in ihr Atelier ein paar Straßen weiter ein. Doch sie warnt uns vor: Dort sei es aufgeräumt, leer, und es sei gar nichts darin zu sehen.
TEXT: PETRA ROETTIG
PETRA ROETTIG, Leitung Sammlung Kunst der Gegenwart