Alexia, Tatiana, Rosa
»Raum und Zeit«, »das Spiel mit den Dimensionen«, »die Auflösung von Grenzen« – was immer ich über Tatiana Trouvé gelesen hatte, drehte sich um diese Begriffe. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, als ich ihr Atelier betrat: etwas Geheimnisvolleres, Komplizierteres?
Wir waren nach Paris gereist, um Alexia Fabre, die Jurorin des Rosa-Schapire-Kunstpreises 2019, zu treffen und gemeinsam mit ihr die diesjährige Preisträgerin Tatiana Trouvé in ihrem Atelier zu besuchen.
Die großen ruhigen Räume in dem noch beinahe kleinstädtischen Montreuil wirken aufgeräumt und doch bewohnt: Da ist das Hundebett, dass auf einen Mitbewohner von beträchtlicher Größe schließen lässt, Arbeitsmaterialien verschiedenster Art, ein Stuhl mit abgeworfener Daunenweste und einer Handtasche – schon sind wir auf ein erstes Werk der Künstlerin gestoßen. Beim Nähertreten bemerkt man erstaunt, dass an diesem Stuhl nichts ist, wonach es aussieht: Die weiche Jacke ist aus Marmor, die Ledertasche aus Bronze, das flache Polster aus Metall.
Tatiana Trouvé erzählt uns die Geschichte zu den Guardians genannten Stühlen, die inzwischen eine eigenen Werkreihe bilden: Als junge Künstlerin habe sie zum Broterwerb einen Job als Aufsicht im Beaubourg, dem Centre George-Pompidou angenommen. Den Aushilfen sei eingeschärft worden, ihren Platz keinesfalls zu verlassen, und wenn es denn unumgänglich wäre, dies zu tun, auf jeden Fall etwas auf dem Stuhl zurückzulassen, das dem nun unbeaufsichtigten Besucher signalisiert: »Ich bin sofort zurück.«
Überraschenderweise hat Trouvé in ihren Guardians nicht allein das Flüchtige der Situation festgehalten – mit einem hingeworfenen Kissen hier, einer Tasche über der Lehne dort –, sondern durch die Wahl der Materialien weit darüber hinaus gegriffen. In jedem dieser Stühle verdichtet sich ein menschliches Sein: In Stein gemeißelt, in Bronze gegossen für die Ewigkeit, wird der Moment scheinbar unendlich ausgedehnt. Ob das gemeint war mit »Raum und Zeit und Dimension«?
Später am Nachmittag erzählt Alexia Fabre, wie sie Tatiana Trouvé kennengelernt hat, als junge, unentdeckte Künstlerin in einem Lagerhaus in Pantin, einem Stadtteil, den man damals nicht so ohne Weiteres allein betrat. Man mag gerne glauben, dass das »gepasst« hat mit den bei den ungefähr gleichaltrigen Frauen: die unbeirrt vom ausbleibenden Erfolg an ihrem Künstlersein festhaltende Trouvé und die junge Kuratorin Fabre, die seit 1998 mit dem Aufbau des Musée d’art contemporain du Val-de-Marne (MAC VAL) beschäftigt war. Das MAC VAL in Vitry-sur-Seine, ebenfalls abseits vom gewohnten Kunstbetrieb liegend, ist bis heute ein ebenso zukunftsweisen des wie ehrgeiziges Projekt. Junge französische Kunst zu sammeln und zu vermitteln in einer Gegend, deren Bewohner dazu nicht prädestiniert sind, erfordert nicht flüchtigen Enthusiasmus, sondern tiefe Überzeugung und einen langen Atem. Rosa Schapire hätten diese bei den Frauen gefallen.
TEXT: KATHRIN ERGGELET