Werner Nöfer, Landschaft nach St. V O, 1970, Hamburger Kunsthalle / bpk, Foto: Christoph Irrgang, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023
Werner Nöfer (Ausführung: Jürgen Klossowski), Wandmalerei am »Grünspan«, Hamburg-St. Pauli, Große Freiheit 58, Aufnahme von 1969, Foto: Werner Nöfer
Werner Nöfer. Messko, 1970, Hamburger Kunsthalle / bpk, Foto: Christoph Irrgang, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023
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Landschaft nach St. VO

In Venedig, erzählte kürzlich ein Bekannter, landeten immer mehr Touristen in den Kanälen, weil sie nur noch auf ihre Smartphones blickten und ihre Umgebung kaum noch wahrnähmen. Tatsächlich bewegen wir uns am Gängelband von Google Maps durch die Städte. Statt sich wie früher mittels Karte und Plan einen Überblick zu verschaffen, läuft man als kleiner beweglicher Punkt durch gerade einmal handtellergroße Ausschnitte komplexer Stadtgefüge. Wie Pac-Man in dem legendären Videospiel ist man mehr drinnen als draußen. An die Stelle menschlicher Orientierung tritt die maschinelle Lenkung, an die Stelle des Aktiven etwas eigentümlich Passives. 

Digitale Tools haben sich längst zwischen uns und die Welt geschoben. Was heute die Smartphone-Displays sind, waren in den 1960er-Jahren die technischen Apparaturen, die der Hamburger Künstler Werner Nöfer in seine Kunst eingebracht hat. In kräftigen Farben hat er signethafte Tableaus geschaffen, die Ausblicke durch optische Instrumente zeigen: Ferngläser und -rohre, Okulare und Periskope. Sie öffnen den Blick auf Landschaften, die mehr Stereotyp als Realität sind: grüne Wiesen und gelbe Felder mit blauen Himmeln und geradezu klischeehaften weißen Wolken. Unser Blick, so der Eindruck, ist ein durch die technische Apparatur gebrochener. Natur ist nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch vermittelt erfahrbar. 

Unter dem Titel Periskopisch! lädt die Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle dazu ein, das Werk eines Künstlers wiederzuentdecken, der das heute wieder äußerst aktuelle Spannungsfeld zwischen Stadt und Land, Natur und Technik facettenreich auslotet. Anhand von rund 40 Werken aus den 1960er- und 1970er-Jahren vermittelt sie einen Überblick über Nöfers signethafte Bildsprache, die auch seine Werke im öffentlichen Raum prägt. 

Der 1937 in Essen geborene Künstler hat zunächst an der dortigen Folkwangschule Gebrauchsgraphik studiert und anschließend Freie Graphik an der Hamburger Hochschule für bildende Künste. Früh hat er sich dem Siebdruck verschrieben, in dem er ein demokratisches Medium erkannte. Kunst für kleines Geld unter die Leute zu bringen, das entsprach ganz dem Geist der Zeit, aber auch seinem zentralen Thema: ein Bewusstsein zu schaffen für die Umwelt und unseren Bezug zu ihr. 1968 gründete Nöfer mit Bruno Bruni, Hans-Jürgen Kleinhammes, Tomislav Laux, Ernst Mitzka, Wolfgang Oppermann und Konrad Schulz die Künstlercooperative CO-OP, die »durch Kooperation die Funktion von Kunst in der Gesellschaft verändern« wollte. Im Jahr darauf setzte er gemeinsam mit Dieter Glasmacher den Anspruch auf gesellschaftliche Wirksamkeit unmittelbar im Stadtraum um: Das legendäre Wandbild am Grünspan in St. Pauli entstand, eines der ersten Wall Paintings Europas.


In weiter Ferne so nah 
Die Sehnsucht nach der Natur gilt seit der Romantik als regelrechter Topos. Doch schon bei Caspar David Friedrich finden sich Hinweise auf einen Verlust der Unmittelbarkeit. Der Wanderer über dem Nebelmeer steht genau im Kreuzungspunkt der Bilddiagonalen und verstellt den Blick – zumindest für uns Betrachter. Der Mönch am Meer wirkt vor der monumentalen Kulisse einer fast monochromen Farbwand vereinzelt, ja verlassen. Und auch die Landschaft selbst ist bei Friedrich keine natürliche mehr, sondern konstruiert, aus einzelnen Naturstudien im Atelier zusammengesetzt – so die These der letzten großen Friedrich-Ausstellung 2006 in der Hamburger Kunsthalle mit dem sprechenden Titel Die Erfindung der Romantik

Nöfer geht noch einen Schritt weiter. Die technischen Apparaturen zeigen nicht nur unsere Entfremdung von der Natur an, sondern verändern die Landschaft selbst: Sie wird vermessen, verzerrt, in weite Ferne gerückt. Sie bleibt unerreichbar – obwohl Fernrohre und -gläser sie eigentlich ganz nah heranholen sollten. Sektoren und Schablonen, Radien und Raster legen sich über die Durch- und Ausblicke, gliedern und manipulieren sie zugleich. 

Neben den optischen Geräten sind es Messinstrumente, die Nöfer mit Stadt- und Landschaftsveduten kombiniert. So zeigt etwa Messko (1970) einen Oszillographen, der, statt elektrische Spannungen anzuzeigen, den Blick auf eine gelbe, an ein blühendes Rapsfeld erinnernde Landschaft unter strahlend blauem Himmel freigibt. Andere Arbeiten wie Zero (1979) erinnern an Tankanzeigen oder Tachometer und rufen das Auto als Fortbewegungsmittel auf. Abstand und Entfernung werden durch Koordinaten sichtbar gemacht, und so wird die Ferne nicht mehr optisch erfahren, sondern durch Vermessung angezeigt und durch Geschwindigkeit gleichsam eingeholt. Latitude (1970) schließlich macht die Weltlandschaft in ihrer ganzen Ausdehnung sichtbar: Eingesponnen in ein Netz geographischer Koordinaten, wölbt und biegt sich die gelbe Landschaft wie in einer Linse, begrenzt von einer dunklen Bergkette und umflossen vom Blau des Himmels und des Ozeans.

1964 proklamieren Werner Nöfer, Jens Lausen und Hans-Jürgen Kleinhammes die Kunstrichtung »Neue Landschaft«. Landschaft, das ist bei allen dreien eine Konvention, ein Klischee, eine Konstruktion, sie ist nicht mehr gewachsen, sondern geometrisiert. Doch ging es Nöfer im Gegensatz zu seinen Künstlerkollegen nicht nur um die technisch und zivilisatorisch veränderte Landschaft selbst, sondern immer auch um unseren Blick auf sie, der den gleichen technischen Einflüssen unterliegt: »Der Gewalttätigkeit der technologischen und mechanischen Umwelt müßten die bildnerischen Mittel entsprechen, damit sich ein adäquates Aggressions-Arsenal entwickelt. […] [W]er jetzt illusionäre Tafelbilder malt, ist wirklich reaktionär.« 

Signal und Emblem
Nöfers Blick auf die massenmedial und industriell überformte Alltagskultur der Nachkriegszeit wurde besonders auch den Mitbegründer der englischen Pop-Art Eduardo Paolozzi geschärft, der von 1960 bis 1962 eine Gastprofessur an der Hamburger Kunsthochschule innehatte. Es waren jedoch weniger die medialen, sondern vorrangig die technischen Fragestellungen, die Nöfer aufgriff und ins Zentrum seines künstlerischen Denkens stellte. Die Bildsprache, die er entwickelte, ist reduziert, signalhaft, ja sie erinnert in ihrer Eingängigkeit an Piktogramme. In ihrer oft absurden Kombination von naiven Landschaftskürzeln und technischer Apparatur öffnen sie einen Denkraum, der in seiner emblematischen Verkürzung einschlägige Botschaften vermittelt. Der Bezug von Blick und Bild wird sinnbildhaft auf den Punkt gebracht: Wie wir auf die Umwelt blicken, entscheidet über das Bild, das wir uns von ihr machen. Nöfer verbindet das WAS der Darstellung mit dem WIE der Wahrnehmung. 

Die Bildtitel unterstreichen die zugleich klaren und rätselhaften Botschaften und spielen die Bedeutung wie beim Billard über Bande. Holiday (1970) etwa zeigt eine schwedische Parkuhr – eine Reminiszenz an den Urlaub, als eine Art Vermessung der Freizeit bei Sonnenuntergang, bei der die Technik mit der Romantik kollidiert. Shape I (1971) zeigt schwarze Panzersilhouetten in weiten Landschaften. Die fast drollig wirkenden Piktogramme deuten die weiße Wolke zu Rauchschwaden fernen Kriegsgeschehens um. Humor und Kritik, Idylle und Abgrund halten sich die Waage. 

Dabei muten Nöfers Werke in ihrer Signalwirkung und mit ihren fast aggressiven Farben Rot, Gelb, Grün und Blau wie eine Antwort auf die neongrellen Reklametafeln und Verkehrszeichen an, die den öffentlichen Raum prägen. Sie nutzen deren Gestalt, adaptieren sie und formulieren sie um. Die Eindeutigkeit der Zeichen weicht der Mehrdeutigkeit der Kunst. 


Kritik der Wahrnehmung

Der »Gewalttätigkeit der technologischen und mechanischen Umwelt« begegnet Nöfer indes nicht nur mit ihren eigenen Mitteln, sondern er erweitert seine Antwort zu einer regelrechten Kritik der Wahrnehmung (und ihrer künstlerischen Wiedergabe). Perspektive (1967) zeigt einen Blick auf Landschaften durch zwei Ovale, die an ein Fernglas erinnern. Links schiebt sich von unten ein Fabrikschornstein ins Bild, rechts überspannt eine riesige Verkehrsbrücke die Landschaft, deren Weite einmal durch sich nach hinten verjüngende Horizontalen, einmal durch perspektivische Fluchtlinien angezeigt wird. Der Effekt könnte unterschiedlicher kaum sein: Öffnet sich rechts durch die gegenläufigen Diagonalen von Brücke und Boden der Bildraum in die Tiefe, kippt links der Schlot dem Betrachter förmlich entgegen. 

Nöfer kombiniert hier die bildnerischen Mittel von Horizontalen und Diagonalen zur Erzeugung räumlicher Tiefe und die Schraffuren des Schornsteins zur Simulation seiner Rundung so, dass eine optische Täuschung entsteht. Der Bezug von Bild und Wirklichkeit kollabiert nicht nur, weil der suggerierte Blick eines Augenpaares durch ein Fernglas den Blick auf zwei verschiedene Landschaften eröffnet. Die Bilder selbst erweisen sich als konstruiert, und damit stellt sich einmal mehr die Frage nach der Eignung von ästhetischen Darstellungskonventionen zur Wiedergabe der – dreidimensionalen – Realität. 


Bildraum und Stadtraum
Die Markierung der Stadt durch Schilder und Straßenbemalung, aber auch Absperrbänder und Signale zieht sich durch Nöfers menschenleere Bilder, in denen die Fußgänger durchgängig fehlen. An die Stelle der körperlichen tritt die motorisierte Fortbewegung, an die Stelle des Flanierens das Fahren. In Landschaft nach St.VO (1970) schiebt sich das Leitsystem der Straßenbemalung ins Bild und verdrängt fast gänzlich das Sehnsuchtsmotiv der Horizontlandschaft. In Ost-West-Straße (1970) fehlt die Stadt völlig.

Die »autogerechte Stadt« der Nachkriegszeit gab dem Verkehr den Vorzug vor den Fußgängern. Als 1966 die Simon-von-Utrecht-Straße verlängert und mit dem Neuen Altona verbunden wurde, entstand am Durchbruch die große Brandmauer des Grünspan, die zwei Jahre später von Werner Nöfer und Dieter Glasmacher gestaltet wurde. 

Der Schritt in den Stadtraum wirkt vor diesem Hintergrund wie eine logische Konsequenz aus Nöfers bildnerischem Denken. Neben dem Wandbild am Grünspan, seinem wohl bekanntesten Kunstwerk im öffentlichen Raum, hat er allein in Hamburg unter anderem den Eingang zum Abaton-Kino am Grindel (1970) und Wandtafeln an der Eisbahn in Planten un Blomen (1973) sowie an einem Haus Ecke Milchstraße/Magdalenenstraße (1972) gestaltet. Auch die Hamburger Kunsthalle hat Nöfer bedacht. Zusammen mit Dieter Glasmacher schuf er 1972 drei ovale Wandbilder an der Brüstung zum ehemaligen Kunstverein, die 1992 dem Neubau der Galerie der Gegenwart weichen mussten. Gereinigt und restauriert, werden sie parallel zur Ausstellung in der Kunsthalle im Oberhafenquartier zu sehen sein. 

Die Spannungsfelder von Stadt und Land, Bildraum und Umraum, Wahrnehmung und Wirklichkeit verdichtet Nöfer in dem gigantischen Periskop am Grünspan zu einem vielschichtigen Sinnbild, das aktueller ist denn je. Von den altmodischen optischen Apparaturen bis zu unseren modernen Smartphones bleibt die zentrale Frage die nach der Orientierung im Raum durch den technisch gelenkten Blick – und dieser Frage verleiht Nöfer hier noch eine fast unheimliche Note: Das indirekte, heimliche Sehen durch das Periskop scheint die beinahe flächendeckende Überwachung des öffentlichen Raumes geradezu vorwegzunehmen.


TEXT: VERONIKA SCHÖNE

VERONIKA SCHÖNE ist Kunsthistorikerin und arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Dozentin.