Ausstellungsansicht Goya. Das Zeitalter der Revolutionen (Zyklus Kunst um 1800), Hamburger Kunsthalle, 1980, Historisches Archiv der Hamburger Kunsthalle, Foto: Elke Walford
Ausstellungsansicht Nana – Mythos und Wirklichkeit, Kuppelsaal der Hamburger Kunsthalle, 1973, Historisches Archiv der Hamburger Kunsthalle, Foto: Ralph Kleinhempel
Werner Hofmann (1928–2013) während der Vorbereitung von Goya. Das Zeitalter der Revolutionen, Hamburger Kunsthalle, 1980, Historisches Archiv der Hamburger Kunsthalle, Foto: Elke Walford
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Museumsrevolution

Wie Werner Hofmann in den 1970er-Jahren mit dem Zyklus Kunst um 1800 Wissenschaft und Ausstellungspraxis verbinden wollte, hat jetzt ein Forschungsprojekt untersucht

TEXT: FLORIAN BRITSCH

Mit drastischen Worten warnte der Festredner anlässlich der Hundertjahrfeier der Hamburger Kunsthalle und der Verabschiedung von Alfred Hentzen (1903–1985) als Direktor Ende August 1969 davor, die Autonomie der Kunst preiszugeben. Er polemisierte gegen »Kunstsoziologen [samt] ihres politologisch verseuchten Anhangs von Kritikern« und warf denjenigen, die das Museum in die gesellschaftliche Verantwortung nehmen wollten, einen »verstümmelten Wirklichkeitsbegriff« vor, der Kunst auf ihre ökonomischen und sozialen Bedingungen reduziere und gleichermaßen zu einer bloß »angewandte[n] politische[n] Malkunst« wie zur Zerstörung der Institution Museum als richtender Instanz führen müsse: »Oh, steinalte, in den Filzpantoffeln der marxistischen Urgroßväter daherlatschende Ideologie!«
Der Festredner war Werner Haftmann (1912–1999), Autor des Standardwerks Malerei im 20. Jahrhundert (1954), Apologet der Abstraktion als »Weltsprache«, von 1955 bis 1964 mitverantwortlich für die ersten drei documenta-Ausstellungen und schließlich seit 1967 Gründungsdirektor der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Sein Verständnis von Kunst als einer »überzeitlichen« Größe führte jedoch bekanntermaßen auch dazu, dass er lebenslang seine eigene, zeitbedingte Vergangenheit als NSDAP- und SA-Mitglied verschwieg. Der heimliche, im August 1969 in Hamburg noch abwesende Adressat seiner – in der Woche darauf auch in der ZEIT veröffentlichten – Schmährede war Werner Hofmann (1928–2013), designierter Nachfolger von Alfred Hentzen als Kunsthallendirektor, der sein Amt nur wenig später, am 1. Oktober 1969, antreten sollte.

Kunstgeschichte nach 1968

Hofmann hatte sich vor seiner Berufung nach Hamburg unter anderem als Gründungsdirektor des Museums des 20. Jahrhunderts in Wien und als Autor von so grundlegenden Publikationen wie Das Irdische Paradies. Kunst im 19. Jahrhundert (1960) und Grundlagen der modernen Kunst (1966) einen Namen gemacht. Auch mit Haftmanns formalistisch verengtem Moderne-Begriff hatte er sich schon früh auseinandergesetzt, und seine Vorstellung von den Aufgaben des Museums stand dessen elitärer Haltung diametral entgegen. »Das Museum nimmt Zeitfarbe an«, hatte er schon 1959 geschrieben; es müsse »gleichsam entmusealisiert« werden – Vergangenheit und Gegenwart sollten sich wechselseitig erhellen. In den Debatten der 1960er- und 70er- Jahre um »Bildungsnotstand« und Museumsreform avancierte Werner Hofmann so zum Vorreiter einer »linken Kunstgeschichte«, die sich nun anschickte, das Kunstmuseum zu erobern. »Lernort contra Musentempel«, so lautete ein Schlagwort der damaligen Zeit.
Dabei war Marx keineswegs Hofmanns einziger, nicht einmal sein erster Gewährsmann. Er ließ sich ebenso von der Wiener Schule der Kunstgeschichte, der Gestalttheorie und von Carl Einstein, von Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung, vom französischen Strukturalismus und der Ikonologie Aby Warburgs anregen: Zur Sozialgeschichte der Kunst traten Formanalyse, Geistes-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte sowie eine Bildwissenschaft avant la lettre, immer mit dem Ziel, Kunstwerke gerade nicht zur bloßen Illustration von Geschichte zu missbrauchen, sondern sie als »bildliche Denkformen« ernst zu nehmen und mit ihrer Hilfe umgekehrt ein Licht auf den widersprüchlichen Charakter historischer Prozesse fallen zu lassen. Dem sollte eine Ausstellungsarchitektur entsprechen, die sich als temporäre Anordnung zu erkennen gibt, um auf diese Weise den »Werkstattcharakter des Museums« zu betonen. Entgegen den herkömmlichen musealen Präsentationsformen wollte Hofmann so »die Harmonieerwartung des Publikums […] bewußt zerstören oder wenigstens in Frage stellen«, um im Gegenzug einen »Freiraum«, vor allem des Denkens, zu eröffnen.
Diese doppelte – wissenschaftliche wie kuratorische – Arbeit an der (Kunst-) Geschichte kulminierte während der Amtszeit von Werner Hofmann in Hamburg (1969 bis 1990) in dem neunteiligen Ausstellungszyklus Kunst um 1800, der unter seiner Regie und mit einem wechselnden Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Kooperationspartnern aus ganz Europa von Mai 1974 bis Januar 1981 realisiert werden konnte: Ossian und die Kunst um 1800 (1974), Caspar David Friedrich 1774–1840 (1974), Johann Heinrich Füssli (1974/75), William Blake (1975), Johan Tobias Sergel (1975), William Turner und die Landschaft seiner Zeit (1976), Runge in seiner Zeit (1977/78), John  Flaxman – Mythologie und Industrie (1979) und schließlich Goya. Das Zeitalter der Revolutionen (1980/81). 
Hofmann und die Hamburger Kunsthalle haben mit diesem Zyklus Wissenschafts- und Ausstellungsgeschichte geschrieben. Sie haben das Genre der Themen- oder besser Thesenausstellung erfunden und damit – schon aus damaliger Perspektive – »die Forschung ins Museum zurückgeholt«. Und dies für ein teils großes Publikum: So gelang mit der Jubiläumsschau zum 200. Geburtstag Caspar David Friedrichs 1974 einer der ersten Blockbuster-Erfolge der jüngeren Museumsgeschichte. Einlasswillige mussten kilometerweit Schlange stehen; knapp 219.000 Eintrittskarten und sagenhafte 45.546 Kataloge wurden verkauft. Überhaupt, die wissenschaftlichen Kataloge dieser Ausstellungsreihe: Generationen von Studierenden haben sich von ihnen inspirieren lassen.
Doch in dem Maße, wie Kunst um 1800 zur Legende wurde, gerieten die konkreten Ausstellungen und ihre Begleitumstände mit der Zeit in Vergessenheit. Ein zweijähriges Forschungsprojekt, initiiert und geleitet von Petra Lange-Berndt (Kunstgeschichtliches Seminar der Universität Hamburg) und Dietmar Rübel (Akademie der Bildenden Künste München), in Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle und unterstützt von Isabelle Lindermann als wissenschaftlicher Assistentin (Universität Hamburg / Akademie der bildenden Künste Wien), hat sich dieses Desiderats angenommen. Zeitgenössische Installationsansichten und Hängepläne wurden zusammengetragen, der Zyklus selbst sowie weitere Ausstellungen der Kunsthalle in diesem bewegten Jahrzehnt umfassend dokumentiert; vor allem aber wurden die wissenschaftsgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Kontexte genauer untersucht. Die Ergebnisse, einschließlich zahlreicher Beiträge weiterer Autorinnen und Autoren, liegen jetzt in Buchform vor. Ausführlich beschrieben wird darin unter anderem die überragende Bedeutung, die Person und Werk Aby Warburgs (1866–1929) für Hofmanns Konzept des »forschenden Kuratierens« zukam. Umgekehrt hatte Hofmann maßgeblichen Anteil an der Rehabilitierung des Privatgelehrten und der Etablierung einer aktualisierten Version einer »Hamburger Schule« der Kunstgeschichte.

Bilderströme

Warburg stand für Werner Hofmann nicht nur Pate bei der Erweiterung der Kunst- zur Kulturwissenschaft, die auch populäre Bildformen und Gebrauchskünste jenseits der »Hochkunst« einbeziehen sollte. Er fand hier vielmehr entscheidende Anregungen für seine eigene Ausstellungspraxis. Schon vor seinem Amtsantritt an der Hamburger Kunsthalle hatte er angekündigt, den Kuppelsaal des Erweiterungsbaus, das »Allerheiligste«, in ein kuratorisches Experimentierfeld verwandeln zu wollen. 1973, ein Jahr vor dem Start von Kunst um 1800, richtete er dann ausgerechnet hier eine Ausstellung ein, in der ein einzelnes Gemälde, Édouard Manets berühmte Nana, in ein komplexes Netzwerk von visuellen Bezügen eingespannt wurde. Knapp 400 weitere Bilder an den umlaufenden Wandflächen, darunter über drei Viertel fotografische Reproduktionen, unterteilt in 25 thematische Kapitel, »Bildessays« genannt, sollten das auratische »Meisterwerk« zum Sprechen bringen und es als Kreuzungspunkt unterschiedlichster, auch gegensätzlicher Sinnschichten kenntlich machen.
Im begleitenden Katalog wurde das Vorbild Warburg ausdrücklich benannt. Über die Tafeln des legendären Bilderatlas Mnemosyne schrieb Hofmann später in der Rückschau: »Wir blicken hier in die Werkstatt eines Ausstellungsmachers.« Und tatsächlich scheinen jene temporären Präsentationen von »Bilderreihen«, die Warburg parallel zur Arbeit am Mnemosyne-Projekt im Lesesaal seiner Kulturwissenschaftlichen Bibliothek installiert hatte, die kuratorische Praxis der 1970er-Jahre vorwegzunehmen.
Acht von neun Ausstellungen zur Kunst um 1800 fanden später ebenfalls zumindest teilweise im Kuppelsaal statt, der dafür eigens renoviert wurde; die meisten nahmen ihn sogar zum Ausgangspunkt. Der Bilderstrom, der mit Nana eingesetzt hatte, schwoll dabei immer mehr an. In der Goya-Schau waren schließlich 593 Werke zu sehen, teils in Gruppen auf dunklen Tafeln zusammengefasst und von Vitrinen umstellt – darunter allerdings nur 25 Ölgemälde von Goya selbst. In einigen Räumen begann die Präsentation bereits auf Kniehöhe. Die Kritik fühlte sich angesichts dieser »Bilder- und Bildchenflut« tendenziell überfordert, es war von Ausstellungen in Katalogform die Rede. Man könnte hingegen auch von verräumlichtem Denken sprechen.
Aus Hofmanns Sicht dienten diese Inszenierungen jedenfalls dazu, für die Kunst um 1800 insgesamt jenes Bild offener »Vielstimmigkeit« zu erzeugen, das dazu beitragen sollte, die Zeit von Aufklärung, Revolution und beginnender Industrialisierung als Epochenschwelle von europäischem Maßstab in den Blick zu nehmen. Nationale Kunstgeschichten wurden zu diesem Zweck ebenso suspendiert wie herkömmliche stilgeschichtliche Einteilungen etwa in Klassizismus und Romantik. Mit der Auswahl von in Deutschland damals noch nahezu unbekannten Künstlern wie Blake, Flaxman, Füssli und Sergel verschob sich zudem der Akzent nach Norden, nach England und Skandinavien. Auf diese Weise wollte man der einseitigen Fixierung auf den von der französischen Kunst dominierten Kanon einer malerischen Einbahnstraße Richtung Abstraktion entkommen, wie ihn die Kunstkritik des 20. Jahrhunderts von Julius Meier-Graefe bis Werner Haftmann etabliert hatte.

Das Janusgesicht der Moderne – um 1800 und nach 1970
Hofmann ließ sich stattdessen nicht nur von Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung, sondern auch von so unterschiedlichen, gemäßigt konservativen bis offen reaktionären Denkern wie Reinhart Koselleck (Kritik und Krise), Theodor Hetzer (Goya und die Krise der Kunst um 1800) und Hans Sedlmayr (Verlust der Mitte) anregen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie den Epochenbruch um 1800 gleichermaßen als Krise wie als struktur- und mentalitätsgeschichtlichen Aufbruch in die Moderne verstehen. Kunst um 1800 übernahm diese Diagnose, verzichtete aber auf die einseitig negative Bewertung als »Pathogenese« (Koselleck) und betonte stattdessen die »heterogene Struktur der Epoche«, ihre Ambivalenzen und Widersprüche, die uneingelösten Hoffnungen und das drohende Scheitern. Dem universellen Freiheitsstreben der Aufklärung, das in der Lithographie von Auguste Desperet in die Vision einer Weltrevolution mündet, antwortet daher in der Kunst Francisco de Goyas, für Hofmann der »Zeuge aller Zeugen«, der »von der Nacht eingeholte Vernunfttraum des ›siècle des lumières‹«.
Doch muss man Kunst um 1800 auch als Antwort auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart verstehen. Nicht zufällig fiel die Öffnung der Museen mit dem Beginn der Ära Brandt und der Devise »Mehr Demokratie wagen« zusammen. In der Folge setzte nicht nur eine neue Verständigungspolitik mit dem Ziel einer gesamteuropäischen Friedensordnung ein, sondern erstmals auch eine öffentliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Der großen Friedrich-Schau von 1974 war deshalb vor dem Kupferstichkabinett eine Begleitausstellung mit dem Titel Caspar David Friedrich und die deutsche Nachwelt vorgeschaltet, in der die Indienstnahme der deutschen Romantik durch die völkisch motivierte NS-Kunstgeschichte aufgearbeitet wurde. Die Entnazifizierung Friedrichs und seine wissenschaftliche Integration in den europäischen Zusammenhang einer Umbruchszeit um 1800 entpuppen sich so als zwei Seiten einer Medaille.
Die gesellschaftliche Aufbruchstimmung, von der die ersten Jahre der Amtszeit Werner Hofmanns getragen wurden, war indes nicht von Dauer. Spätestens mit dem Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit von 1972 stieß der Fortschrittsglaube der Nachkriegszeit an die Grenzen des Wachstums; das Wort vom »Zukunftsschock« machte die Runde. Nach dem Münchner Olympia-Attentat und den Terroranschlägen der RAF waren gleichzeitig auch die Revolutionsträume der westdeutschen Linken weitgehend ausgeträumt. Die im Zyklus Kunst um 1800 thematisierten gesellschaftlichen Umbrüche und Konflikte mochten vor diesem Hintergrund wie ein ferner Spiegel der aktuellen Katastrophen, Ängste und Hoffnungen erscheinen – Gegenwart und Vergangenheit waren in den Ausstellungsinszenierungen auf komplexe Weise miteinander verschränkt.
Kunst um 1800 sei daher letztlich »ein akademisch geprägtes, kuratorisches Projekt über das Selbst verständnis der Bundesrepublik« gewesen, resümieren Lange-Berndt und Rübel. Damit sind aus heutiger Sicht zugleich die Grenzen und Leerstellen des Unternehmens benannt: Eine globale Perspektive, die auch die europäische Kolonialgeschichte einschließt, gerät erst am Ende des Zyklus ansatzweise in den Blick; die zur Zeit der Französischen Revolution tatsächlich heftig umkämpfte Geschlechterfrage fehlt in den Ausstellungen fast völlig. Dennoch: Kaum je hat ein Ausstellungsvorhaben die Institution Museum so grundsätzlich und nachhaltig verändert. Von diesem Willen zur Erneuerung, verbunden mit der Bereitschaft zur kritischen (Selbst-) Reflexion, von dem Beharren auf der geschichtlichen Dimension künstlerischer Zeugnisse bei gleichzeitigem Bewusstsein der Gegenwärtigkeit der eigenen Perspektive lässt sich auch ein halbes Jahrhundert später noch lernen. 

FLORIAN BRITSCH ist Kunsthistoriker und Programmleiter der Freunde der Kunsthalle; als Lehrbeauftragter unterrichtet er Kunstgeschichte an der Hochschule für Musik und Theater/Theaterakademie Hamburg.